Der Tagesspiegel, 22. November 2012

Feuerpause? Verschnaufpause!

Angst, Hass und Propaganda: Warum die Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas wohl nicht von Dauer sein wird

Die Welt atmet auf. Im Nahen Osten schweigen nach Tagen heftiger Kämpfe die Waffen. Angesichts des Blutvergießens, der Not und des Leids ist das zweifellos eine gute Nachricht - in erster Linie für die Menschen, die in der Region leben. Sie können jetzt damit beginnen, ohne Raketenhagel und Luftangriffe in den Alltag zurückzufinden. Arbeiten, zur Schule gehen, mit Freunden treffen. Das klingt nach Selbstverständlichkeiten. Doch was ist schon selbstverständlich im Nahen Osten, wo Angst, Hass und Krieg allzu oft das Miteinander infrage stellen, ja unmöglich machen? Herzlich wenig.

Aber vielleicht bringt der aktuelle Gaza-Konflikt und sein zumindest vorläufiges Ende die gegnerischen Parteien zur Besinnung. Vielleicht wendet sich das Blatt nun endlich zum Guten. Nutzt die Chance, möchte man - wieder einmal - den Kontrahenten zurufen. Frieden ist machbar, Herr Nachbar!

Schön wär's. Die bitteren Realitäten des Nahen Ostens lehren allerdings etwas anderes: Die Feuerpause ist wohl nur eine Verschnaufpause, das Aufatmen ein Durchatmen. Mehr von dieser Waffenruhe zu erwarten, hieße, die Augen vor den Gegebenheiten zu verschließen. Und die machen bei nüchterner Betrachtung wenig Hoffnung auf eine Dauerlösung in absehbarer Zeit. Das hat vielerlei Gründe.

Da ist zunächst das gegenseitige Misstrauen, der unvorstellbare Zorn. Viele Palästinenser und Israelis kennen nichts anderes als den Konflikt. Sie sind sich sicher, dass der Eine dem Anderen grundsätzlich Böses will. Im Gazastreifen und im Westjordanland wachsen die Kinder mit propagandistischen Schulbüchern auf, die Israelis - und alle Juden gleich mit - als zionistische Teufel verunglimpfen. Nach den jüngsten Luftangriffen auf den Gazastreifen sehen sich nicht nur die Extremisten der Hamas bestätigt, dass die Regierung in Jerusalem einzig und allein die Vernichtung ihres Volkes im Sinn hat. Der gestrige Anschlag auf einen Bus in Tel Aviv hat wiederum hat sogar gutwilligen Israelis erneut deutlich gemacht: Der mörderische Terror ist nicht nur im Grenzgebiet eine tödliche Bedrohung, sondern im wahrsten Sinne des Wortes auch vor der eigenen Haustür. Wie soll es auf dieser Grundlage ein Einvernehmen geben, das Bestand hat? Wer dies dennoch für möglich hält, muss schon ein begnadeter Verdrängungskünstler sein.

Oder einer, der nicht wahrhaben will, wie zum Beispiel die Hamas-Extremisten ticken. Die Feuerpause war noch gar nicht in Kraft getreten, da tönte deren Chef Chalid Maschal, Israel steuere "unvermeidlich auf eine Niederlage zu". Und er sei besonders stolz auf das Waffenarsenal, über das die Islamisten verfügten. Ismail Hanija, seines Zeichens Regierungschef im Gazastreifen, sekundierte, man habe dem zionistischen Feind eine Lektion erteilt. Soll man derartigen Ideologen Glauben schenken, dass sie künftig auf Raketenfeuer und Anschläge verzichten?

Aber genau darauf muss Israel bestehen - ohne Abstriche. Denn die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ist jetzt in Vorleistung gegangen. Keine Angriffe mehr, Verzicht auf gezielte Tötungen und die Öffnung der Grenzübergänge - all das ist nur zu haben, wenn es eine Gegenleistung gibt. Eine, die tatsächlich auch in den kommenden Wochen und Monaten Bestand hat. Dass dieser Zustand eintritt, darf mit Fug und Recht ernsthaft bezweifelt werden.

Denn es gibt noch ein weiteres Hindernis auf dem steinigen Weg zu einer dauerhaften Waffenruhe: Iran. Teheran lässt keine Gelegenheit aus, Israel zu provozieren. Am Liebsten in Form von Stellvertreterkriegen. Also rüstet man die Gegner des jüdischen Staates, Hamas und Hisbollah, militärisch auf, versorgt sie mit allem, was die heimischen Waffenlager zu bieten haben. Hauptsache, die Lage im Nahen Osten eskaliert. Wenn Israel dann reagiert, kann das Land im Handumdrehen als Aggressor an den Pranger der Öffentlichkeit gestellt werden.
Zugegeben, jetzt schweigen die Waffen. Die Welt kann durchatmen. Die Frage lautet nur: Wie lange?

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Dr. Christian Böhme
Journalist

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