Jungle World, 17. Januar 2013

Papa war ein Nazi

Böhmische Dörfer (17): Sigmar Gabriels Kindheit. Oder: Ein Blick in deutsche Abgründe

Das nennt man einen Scoop, zu Deutsch einen journalistischen Knüller. Zumal einen in jeder Hinsicht öffentlichkeitswirksamen. Der "Zeit"-Journalist Bernd Ulrich hat nämlich Sigmar Gabriel zum Reden gebracht. Nicht, dass der SPD-Chef den immer unbeliebter werdenden Kanzlerkandidaten namens Peer Steinbrück verteidigt oder einen anstehenden Regierungswechsel herbei fantasiert hätte. Beides wäre keiner Erwähnung wert. Dem stellvertretenden Chefredakteur der Wochenzeitung ist vielmehr das Kunststück gelungen, dass Gabriel einen Einblick in sein Innerstes gewährt. Seine ganz persönliche Familiengeschichte, sie ist nun für jedermann einsehbar. Und wer sich mit der Biografie des 53-Jährigen beschäftigt, der blickt in einen deutschen Abgrund.

Gabriels Kindheit und Jugendzeit glich einem Albtraum. Denn sein Vater war bis zu seinem Tod im Sommer 2012 nicht nur ein verbohrter Hardcore-Nazi, sondern auch ein tyrannischer, kaltherziger Patriarch. Immer wieder gab es Prügel, das Spielzeug wurde bei schlechten Noten an die Kita verschenkt, der Kontakt zur Mutter („Sie hat mir das Leben gerettet“) zeitweise verhindert – unter dem Despoten litt der Sohn viele Jahre lang. Und das hat Gabriel geprägt. Abgesehen von der schmerzhaften Erinnerung ist nach eigenem Bekunden vor allem eins übrig geblieben: ein fast unbändiger Zorn. "Wenn ich etwas als ungerecht empfinde, wenn Menschen Unrecht geschieht, kann ich mich richtig aufregen."

Nun sind "Siggis" Wutausbrüche ja hinlänglich bekannt und wurden bisher nicht selten als aufgesetztes Sozi-Gehabe abgetan. Heute, im Wissen um die Biografie, wirken sie allerdings um einiges authentischer. Wer eine derartige Geschichte hinter sich hat, wer am eigenen Leib körperliche und seelische Verletzungen erfahren hat, der zieht daraus seine Konsequenzen. Links sein, SPD-Mitglied werden – das war für Gabriel offenbar eine fast schon zwingende Selbstverständlichkeit.

Nun stellt sich in einer Mediengesellschaft wie der unsrigen bei einer derartig selbstentblößenden Geschichte rasch die Frage nach dem Warum. Was treibt Gabriel an, gerade jetzt aller Welt seine schwere Kindheit zu offenbaren? Verspricht sich der Ober-Sozi etwas davon? Teilt er sich der Öffentlichkeit mit, um diese für sich einzunehmen? Man ist versucht, in Gabriels Offenheit etwas Berechnendes zu erblicken. Schließlich ist der Mann ein ausgebuffter Politiker. Bringt sich da also einer womöglich via angesehener Wochenzeitung in Stellung? Haben wir es hier mit einer besonderen Form des Populismus zu tun? Geht es gar darum, Mitleid zu heischen? Mag sein. Mag aber auch nicht sein. Gabriel hat lange gebraucht, um sein eigenes Leiden am Vater publik zu machen. Und er tut dies in einer hierzulande ungewöhnlich offenen Art und Weise. Das wirkt nicht berechnend, sondern: angenehm authentisch.

Kontakt

Dr. Christian Böhme
Journalist

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