Der Tagesspiegel, 25. Mai 2013

Mauern der Macht

Radikale jüdische Siedler beanspruchen einen Großteil der Stadt Hebron. Palästinenser sind die Leidtragenden - ein Besuch

Wenn Yehuda Schaul Besucher durch Hebron führt, beginnt er seine Tour an einem Grab. Es befindet sich außerhalb der Stadt am Eingang zur israelischen Siedlung Kirjat Arba, idyllisch gelegen auf einer Anhöhe mit weitem Blick über biblisches Land. Über ein paar Stufen und von Vogelgezwitscher begleitet, gelangt man nach etwa fünfzig Metern an die sandfarbene Platte. Unter ihr hat der Verstorbene seine letzte Ruhestätte gefunden. Auf dem Marmorblock liegen nach jüdischem Brauch ein paar Kiesel. Doch die schwarze Inschrift ist gut zu lesen. In hebräischen Lettern heißt es: Hier liegt Doktor Baruch Kappel Goldstein. Ohne Fehl und mit reinem Herzen opferte er sich für sein Volk, die Thora und das Land Israel. Möge Gott diesen Gerechten segnen, sein Blut rächen, seiner Seele ewige Ruhe geben. Er wurde als Märtyrer Gottes am 14. Adar, Purim, im Jahre 5754 (1994) getötet.

Es klingt, als ob mit diesen Worten an einen Heiligen erinnert werden soll. Einen, der stets Gutes getan hat und dennoch mit Gewalt aus dem Leben gerissen wurde. Ein Vorbild, das geehrt gehört. Ein ganz besonderer Mensch. Aber Baruch Goldstein war alles andere als ein Held. Er war ein ideologischer Fanatiker. Ein fundamentalistisch gesinnter Anhänger der Idee eines Groß-Israels. Ein Rassist. Und ein Massenmörder.

Am frühen Morgen des 25. Februar 1994 betritt der studierte Arzt, bewaffnet mit einem Galil-Sturmgewehr und vier gefüllten Magazinen, den muslimischen Teil der „Höhle Machpela“. Ein auch für Juden heiliger Ort. Denn dort, im Zentrum Hebrons, befindet sich der Überlieferung nach die Grabstätte der „Stammväter“ Abraham, Isaak und Jakob. Viele Gläubige haben sich während des Ramadans zum Gebet versammelt. Goldstein zögert keine Sekunde und eröffnet das Feuer auf die Palästinenser. Mehr als 30 Menschen sterben im Kugelhagel, unter den Opfern sind auch Kinder. Als die Patronen verschossen sind, fallen die Überlebenden des Massakers über den jüdischen Siedler her und erschlagen ihn mit einem Feuerlöscher. Es ist der tragische Höhepunkt eines jahrzehntelangen blutigen Konflikts zwischen Arabern und Israelis um Hebron. Er tobt bis heute.

Dass der Kampf derart unversöhnlich und kompromisslos geführt wird, liegt in erster Linie an den radikalen Siedlern. Da hegt zumindest Yehuda Schaul keinen Zweifel. Zwar seien nicht alle vom Kaliber eines Baruch Goldstein. Doch irgendwie schwebe dessen extremistischer Geist über Hebron. Das mache ein vernünftiges Neben- oder gar Miteinander unmöglich. Die Leidtragenden seien fast ausschließlich Palästinenser. Sie würden drangsaliert, schikaniert, ja diskriminiert. Tag für Tag. Viele hätten bereits frustriert die Stadt verlassen. "Hebron wird mehr und mehr zu einer Geisterstadt", sagt Schaul. Nüchtern klingen seine Worte, fast ein wenig fatalistisch. Und wer für diese Entwicklung verantwortlich ist, das steht für Schaul fest: sowohl die Siedler als auch die sie schützenden israelischen Soldaten. Und damit letztendlich die Regierenden in Jerusalem. Denn egal, welcher politischen Couleur sie angehörten – keiner würde sich trauen, der mächtigen Siedler-Lobby die Stirn zu bieten. Dabei sei die Besatzung weder mit Menschenrechten vereinbar noch einer Demokratie wie Israel würdig.

Eine bloße Behauptung? Haut da womöglich ein Aktivist, ein Propagandist um der Aufmerksamkeit willen auf die rhetorische Pauke? Dagegen spricht Schauls besonnenes Auftreten, seine ruhige Art, die so gar nichts Eiferndes hat. Und seine Vergangenheit. Sie verleiht seinen Worten nicht nur Autorität, sondern vor allem Authentizität. Der korpulente 30-Jährige mit dem mächtigen Bart stammt aus einer Siedlerfamilie, war selbst Soldat. Er hat seinem Land gedient, aus Überzeugung. Und zwei Mal war der strengreligiöse Mann mit der dunklen Kippa auf dem Kopf in Hebron stationiert, zunächst als einfacher Soldat, später im Rang eines Offiziers.

Anfangs hat Schaul „funktioniert“, stellte seine Aufgabe nicht infrage. Palästinenser bei Razzien nachts aus dem Schlaf reißen, ihnen damit Angst einjagen? Geht schon in Ordnung. Einfach mal die Menschen ohne jeden Anlass auf der Straße kontrollieren? Dient doch Israels Sicherheit und dem Kampf gegen Terroristen. Irgendwann allerdings begann der Israeli, an seiner Mission und dem eigenen Tun zu zweifeln. Was hatten die Palästinenser ihm eigentlich getan, was hatten sie verbrochen?

Immer wieder stellte er sich diese Fragen und kam schließlich zur Überzeugung: So geht es nicht weiter. Yehuda Schaul gründete mit anderen ehemaligen israelischen Soldaten „Breaking the Silence“ (Das Schweigen brechen). Eine Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Übergriffe in den palästinensischen Gebieten zu dokumentieren und damit eine offene Debatte über die Folgen der Besatzung zu ermöglichen. Und Hebron soll dafür als besonders drastisches, abschreckendes Beispiel dienen.

Gut 40 Kilometer südlich von Jerusalem mitten im Westjordanland gelegen, ist die Stadt zu einem Ort geworden, der schon gleich nach der Ankunft fast körperliches Unwohlsein verursacht. An jeder Ecke Soldaten mit Maschinengewehren, immer wieder taucht ein Fahrzeug der Sicherheitspolizei auf. Ein paar Siedler sind zu sehen, erkennbar an ihrer gehäkelten Kopfbedeckung. Einige tragen Waffen. Aber noch bedrückender ist etwas anderes: Die Straßen in der historischen Altstadt sind fast menschenleer. Kein Laut ist zu hören, nur von Ferne ruft der Muezzin zum Gebet. Dort, wo eigentlich buntes Treiben herrschen sollte, nichts als das Pfeifen des Windes. Keiner, der mal aus dem Fenster schaut. Niemand, der Einkaufstüten nach Hause trägt oder einfach nur spazieren geht. Nirgendwo Kinder, die spielen und lachen.

Wie auch? Fast alle Geschäfte sind nach Angaben israelischer und palästinensischer Menschenrechtsgruppen geschlossen. Offenkundig seit langem. Farbe blättert von einst beigefarbenen Blechtüren, ein milchiger Staubfilm bedeckt die Fenster. Der Gemüse- und Obstmarkt, Ende der neunziger Jahre noch voller Menschen und Verkaufsstände, ist heute ein trostloser, weil lebloser Ort. Denn Palästinenser dürfen seit der zweiten Intifada weder die umliegenden Straßen nutzen noch Geschäfte öffnen. Aus Sicherheitsgründen, wie es heißt. Viele Menschen haben inzwischen ihre Wohnungen verlassen und sind fortgezogen. Die Wenigen, die noch ausharren, können ihre Wohnungen nur über eine bestimmte Straßenseite betreten. Viele der alten Häuser gleichen mit ihren Gittern vor Fenstern und Türen zudem eher großen Käfigen. Eine Maßnahme, die laut Yehuda Schaul die Bewohner vor den Steinwürfen radikaler Siedler schützen soll. Die haben sich nämlich in Hebrons Zentrum niedergelassen. Vier Siedlungen gibt es inzwischen. Und alle gleichen mit dem sie umgebenden Stacheldraht, den Wachposten und Videokameras kleinen Trutzburgen.

Hebron ist seit 1997 eine geteilte Stadt – und ein Symbol für die Tristesse namens Nahostkonflikt. In Zone H1 unter palästinensischer Verwaltung leben heute etwa 120000 Menschen. In Zone H2 unter israelischer Aufsicht sind es noch 30000 Palästinenser – und knapp 800 nationalreligiös gesinnte jüdische Siedler. Dieses mit Betonsperren weitgehend abgeschottete Territorium reicht tief in das historische Zentrum hinein. Immer wieder hält Yehuda Schaul während des Rundgangs Fotos hoch. Sie zeigen, wie quirlig dieser Teil Hebrons einst gewesen sein muss. Heute haben hier Araber kaum noch Rechte.

Dementsprechend groß ist ihr Frust. Und der Zorn auf die Siedler, von denen wiederum viele glauben, ihnen allein gehöre Hebron. In den vergangenen Jahren schlug die hasserfüllte Wut immer wieder in Gewalt um. Mal standen palästinensische Extremisten auf Häuserdächern und warfen am Schabbat Granaten auf Juden. Mal überfielen sie eine israelische Familie und löschten diese samt Kindern aus. Yehuda Schaul, der sich für die Rechte der Palästinenser stark macht, verhehlt derartige Exzesse keineswegs. „Ja, es kommt zu Übergriffen von Arabern.“ Doch dass die Siedler gleichfalls immer wieder mit großer Brutalität vorgehen, die Araber am liebsten los werden möchten und zudem von Soldaten geschützt werden – dies könne, ja dürfe man eben auch nicht wegreden oder gar verschweigen. „Die israelische Öffentlichkeit weiß oft sehr wenig darüber, was in den besetzten Gebieten vor sich geht. Zum Beispiel in Hebron.“

Wer einmal dort war, kommt kaum umhin, den Ort beklemmend zu nennen. Eine Stadt im Westjordanland, in der Angst, Aggression und Apathie das Leben bestimmen. Ein künstliches Gebilde, geschaffen mit dem Segen israelischer Regierungen, um ein paar Hundert radikalen Siedlern entgegen zu kommen. Die Folgen spürt man auf Schritt und Tritt: Trost- wie Hoffnungslosigkeit. Doch es gibt Projekte, die zumindest eine kleine Perspektive aufzeigen möchten. Dazu gehört das Hebron Rehabilitation Committee.

Mit Unterstützung unter anderem durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau sanieren deren Mitarbeiter seit ein paar Jahren, verlassene und verfallene Häuser in der Altstadt. Aus einem einfachen Grund: Palästinenser sollen dazu bewegt werden, dorthin zurückzukehren. Mehr als 60 hübsche Appartements sind so entstanden, in denen jetzt 240 Menschen leben. Zumeist handelt es sich um sozial schwache Familien, denen der Umzug in die von Israel kontrollierte Zone H2 beispielsweise mit sehr niedrigen Mieten und großzügigem Wohnraum „schmackhaft“ gemacht wurde.

Das allein wird Hebron allerdings kaum zu altem Glanz, geschweige denn zu Frieden verhelfen können. Die politischen Gegebenheiten, der zum Alltag gehörende Unmut stehen dem entgegen. Also wird Yehuda Schaul wohl noch häufig Besucher durch die geteilte Stadt mit ihren menschenleeren Straßen und geschlossenen Geschäften führen. Und vermutlich beginnt sein Rundgang wieder am Grab von Baruch Goldstein. Dem fanatischen Siedler, der an einem Tag dreißig Muslime tötete. Und bis heute von seinen Anhängern als Märtyrer verehrt wird.

Kontakt

Dr. Christian Böhme
Journalist

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