Der Tagesspiegel, 19. Juni 2014

"Extremismus passt nicht zu unserer Tradition"

Tunesiens Regierungschef Jomaa über militanten Islamismus, die Verfassung seines Landes und die Hilfe für Flüchtlinge

Herr Ministerpräsident, Libyen, Syrien oder Irak – in Nordafrika und Nahost bedrohen militante Islamisten die Menschen und erklären der Freiheit den Krieg. Wie groß ist die Gefahr für Tunesien?
Selbstverständlich ist Tunesien davon betroffen, was zum Beispiel in Syrien und bei unserem Nachbarn Libyen passiert. Und das ist durchaus bedrohlich. Deshalb müssen wird unsere Grenzen schützen. Ich sehe Tunesien als ein Haus, in dem im Innern gerade die Dinge neu ausgerichtet werden. Und währenddessen steht das Nachbargebäude in Flammen.

Das heißt?
Für uns folgt daraus zweierlei:Wir müssen zum einen unser eigenes Haus schützen und zum anderen einen Weg finden, um möglichst das Feuer nebenan zu löschen. Ersteres ist Tunesien gelungen. Wir konnten die Stützpunkte der Terroristen zerstören und haben ihnen damit die Fähigkeit genommen, in unser Land einzudringen. Aber bei der Gefahrenabwehr müssen alle zusammenarbeiten: Europa, Nordafrika, die Staaten des Nahen Ostens. Denn alle sind bedroht. Wir sitzen alle in einem Boot.

Radikale Muslime gibt es auch in Ihrem Land. Was unterscheidet diese Islamisten von anderen in der Region?
Nur wenige von ihnen sind militante Muslime. Kurz nach der Revolution Anfang 2011 und dem Sturz von Machthaber Ben Ali waren sie noch stärker. Doch sie wurden mit der Zeit zurückgedrängt – nicht nur von der Regierung, sondern auch von der ganzen Bevölkerung. Denn radikale Extremisten stehen im Widerspruch zu unserer Tradition. Wir fühlen uns dem Gesetz und der Verfassung verpflichtet. Wer das nicht tut, zum Beispiel versucht, mit Gewalt seine Ideologie durchzusetzen, wird die Härte des Gesetzes zu spüren bekommen.

Tunesien wirkt im Vergleich zu seinen Nachbarn stabil. Wie kommt das?
Das liegt an der tunesischen Gesellschaft, sie ist etwas Besonderes. Wir haben eine eigene Kultur, eigene Traditionen, unser eigenes Rechtssystem und unsere eigene Geschichte. Und es gibt eine starke Zivilgesellschaft, die in Krisenzeiten bereit ist, zu handeln. Das war auch 2011 der Fall. Die tunesische Revolution wurde nicht von politischen Parteien getragen, sondern von Menschen, die sich nach mehr Freiheit und Arbeit sehnten. Erst dann kamen die Politiker, wurden Parteien gegründet. Aber aufgrund unserer Tradition sind sie gezwungen, die zivilgesellschaftlichen Kräfte einzubeziehen. Denn in Tunesien ist der Konsens fester Bestandteil des Staatswesens. Das spiegelt sich auch in unserer seit Anfang des Jahres geltenden Verfassung wider.

Diese gilt mit ihren Freiheitsrechten etwa für Frauen als wegweisend. Kann sie ein Vorbild für andere Länder sein?
Keine Frage: Wir sind stolz auf die Verfassung. Aber uns ist sehr wohl bewusst, dass das nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einer gefestigten Demokratie sein kann. Für stabile politische Verhältnisse braucht es auch eine starke Wirtschaft, damit vor allem junge Menschen eine Zukunftsperspektive haben. Dafür sind Investitionen dringend notwendig, auch von ausländischen Firmen. Wer sich in Tunesien engagiert, der hilft nicht nur dem Land und einer jungen Demokratie, sondern der ganzen Region. Wenn das tunesische Beispiel scheitert, weiß ich nicht, was und wer den Menschen noch Hoffnung geben soll.

Die vielen Konflikte in der Region, vor allem der Bürgerkrieg in Syrien, haben eine Flüchtlingswelle verursacht. Wie stark ist Tunesien davon betroffen?
Es mag Sie überraschen:Wir haben schon 1,9 Millionen Flüchtlinge im Land, vor allem aus Libyen, aber machen daraus keine große Sache. Es ist unsere Pflicht, unseren Nachbarn zu helfen. Und sie verursachen keinerlei großen Probleme.

Sie brauchen keine Hilfe durch die EU?
Wir würden sie wohl benötigen, falls es eine neue Flüchtlingswelle gibt. Bislang jedoch kommen wir allein zu Recht. Die tunesische Zivilgesellschaft ist sehr hilfsbereit, hat alles Erforderliche organisiert.


Der Arabische Frühling, der in Ihrer Heimat begann, ist vielfach einem düsteren Herbst gewichen. Sind Sie enttäuscht?
Wenn man den Frühling vor Augen hat, denkt man nicht an Dunkelheit. Doch es war eine allzu romantische Vorstellung, dass die Demokratie über Nacht den Sieg erringt. Heute wissen wir, dass dies ein langwieriger, mit vielen Rückschlägen verbundener Prozess ist.

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Dr. Christian Böhme
Journalist

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