Jungle World, 31. Juli 2014

So sieht der Krieg aus

Böhmische Dörfer (43): Warum Konflikte wie der in Gaza über Twitter und Facebook entschieden werden

Mütter, die mit schreienden Kindern im Arm durch zerstörte Straßen rennen. Männer, die mit Tränen in den Augen um ihr Leben laufen. Hinter sich ein Trümmerhaufen, der mal ihr Zuhause war. Vor ihnen viele andere Menschen, denen nichts geblieben ist, als ihr nacktes, gleichwohl bedrohtes Dasein. Fassungslos, hilflos, hoffnungslos irren sie umher. Begleitet von Tod, Trauer und Verzweiflung.

So sieht er aus, der Krieg in Gaza. Das sind die Bilder, die sich einprägen. Bilder, die über Sieg und Niederlage mit entscheiden – jenseits aller militärischen Erfolge. Weil derartige Aufnahmen betroffen machen, fast uneingeschränkte Solidarität mit den Opfern hervorrufen und psychologisch wie politisch eine immense Wirkung entfalten können. Keine Armee der Welt kann gegen sie etwas ausrichten. Auch die Israels nicht. Aus einem einfachen Grund: Kriege werden heute mehr denn je an der Medienfront entschieden. Und da hat der jüdische Staat ziemlich schlechte Karten. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es die islamistische Hamas ist, die seit Jahren ohne Unterlass Raketen Richtung Feind abfeuert. Schon lange tut sich Israel schwer damit, den ausgefeilten propagandistischen Attacken der Palästinenser Paroli zu bieten. Früher als in Jerusalem hat man in Gaza und Ramallah erkannt, wie einfach es sein kann, mit Hilfe sozialer Medien wie Facebook die öffentliche Meinung – jenseits des Wahrheitsgehalts – in eine bestimmte Richtung zu lenken.

Auch Twitter, der Kurznachrichtendienst, mit dem sich Fotos samt Kommentaren in Sekunden in alle Welt schicken lassen, hat sich zu einem unangenehmen Gegner entwickelt. Denn Bilder vom Leid der Menschen werden praktisch in Echtzeit für jedermann sichtbar. Und wer vermag es schon, sich ihrer oft eingängig daherkommenden Botschaft zu entziehen?

Selbst die traditionellen Medien nutzen Twitter immer häufiger, um möglichst rasch Informationen zu transportieren. Die Reporter in Gaza zum Beispiel ziehen sich nicht wie früher erst einmal in ein Hotel zurück und verfassen dort ihre Beiträge, die dann gesendet oder gedruckt werden. Nein, sie versorgen auf direktem Weg ihre Kundschaft mit Neuigkeiten. Hauptsache, man ist schneller als die Konkurrenz. Und wenn Krieg herrscht, dann sind es in der Regel eben aufwühlende Bilder der Opfer, die via Twitter verschickt werden. Die traditionelle Recherche, das Überprüfen von Informationen, das po­litische Einordnen des Geschehens – Wesensmerkmal des klassischen Journalismus – sind gerade in Extrem­situationen weitgehend hinfällig geworden. Vielmehr werden durch Smartphone und Internet neue »Realitäten« geschaffen. »Realitäten«, die jedoch nicht immer den Tatsachen entsprechen müssen.


Kontakt

Dr. Christian Böhme
Journalist

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