Der Tagesspiegel, 24. Dezember 2015
"Es fehlt das Verständnis für Israels Lage"
Eine drei – befriedigend.
Das klingt 50 Jahre nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen ernüchternd. Wo hakt es?
Die politischen Beziehungen sind gut. Und die Israelis sind begeistert von Deutschland. Umgekehrt ist es das Gegenteil: Das Image Israels in Deutschland ist eher mangelhaft.
Liegt das womöglich an Israels Premier Benjamin Netanjahu?
Die Politik der aktuellen israelischen Regierung ist in vielen Punkten
kritikwürdig und nicht immer für das Image des Landes hilfreich. Aber
selbst mit einer linken Regierung stünden wir vor ähnlichen Problemen.
Es fehlt hier ein grundsätzliches Verständnis für die Lage, in der sich
das Land befindet.
Inwiefern?
Israel gehört zu den ganz wenigen Staaten,
dessen Bürger ihre Heimat nicht auf dem Landweg verlassen können.
Einige Nachbarländer sind noch im Kriegszustand mit Israel. Es gibt auch
kein anderes Land, dessen Existenz tagtäglich infrage gestellt wird.
Das ist eine Situation, die sich hierzulande kaum jemand vorstellen mag.
Dieser Kontext wird häufig leider auch von den Medien nicht vermittelt.
Die Medien tragen also die Schuld am schlechten israelischen Leumund?
Nein, das wäre zu einfach. Sie tragen aber eine Mitverantwortung. Der
Nahostkonflikt besitzt eine überdurchschnittliche Prominenz in der
täglichen Berichterstattung. In anderen Konflikten kommen
hunderttausende Menschen um, die Schlagzeilen aber dominieren sie nicht.
Wer nur deutsche Medienberichte über den jüdischen Staat liest, muss
sich schon sehr anstrengen, um ein realitätsnahes Israelbild zu
bekommen. Und wer über Jahrzehnte hinweg erzählt bekommt, dass die
Israelis nur schießen und die Palästinenser nur beschossen werden, wird
ein verzerrtes Bild bekommen – auch ohne Antisemit zu sein.
Das klingt, als litten die Deutschen an einer Obsession, wenn es um Israel geht?
Verallgemeinerungen bringen uns nicht weiter. Deutschland ist eine
pluralistische Gesellschaft. Aber ja, es gibt Deutsche mit einem
obsessiven Verhältnis zu Israel. Das heißt aber nicht, dass dies für
alle gilt.
Woher kommt diese Besessenheit?
Es gibt einige, die eine Schuld den Juden gegenüber fühlen. Und sie
versuchen sich zu entlasten, indem ständig auf Fehler in der
israelischen Politik hingewiesen wird. Das ist eine ungute
Auseinandersetzung mit unserer Geschichte. Schuld tragen wir Heutigen
nicht mit uns herum. Wir haben aber eine Verantwortung.
Auch
die Politik scheint sich obsessiv mit Israel zu beschäftigen. Bei der
Bundestagswahl 2013 machten alle großen Fraktionen in ihren Programmen
einen Vorschlag zur Lösung des Nahostkonflikts.
Deutschland hat nun mal ein besonderes Verhältnis zu Israel. Schließlich
hat die Lehre aus der Schoa eine zentrale Rolle bei der Gründung des
jüdischen Staates gespielt. Und sie gehört auch unveränderbar zu unserer
Geschichte. Ich finde es von daher richtig, dass sich auch die deutsche
Politik dazu positioniert, wie die Sicherheit Israels gewährleistet
werden kann.
Die Christdemokraten haben die deutsch-israelischen Beziehungen sogar zum Bestandteil ihrer Migrationspolitik gemacht: Geht es nach der CDU, soll auch von den Flüchtlingen ein Bekenntnis zum Staat Israel eingefordert werden. Gut so?
Es ist absurd, wenn ausgerechnet die Deutschen von ihren Einwanderern ein Bekenntnis zu Israel einfordern.
Warum?
40 Prozent der
Deutschen sind der Meinung, Israel führe einen „Vernichtungskrieg“ gegen
die Palästinenser; und fast 30 Prozent sind der Auffassung, dass man
beim Blick auf Israels Politik gut verstehen könne, dass man etwas gegen
Juden hat. Das sind erschreckende Befunde, die uns nicht das Recht
geben, selbstgerecht einseitige Bekenntnisse von Flüchtlingen zu
verlangen. Oder soll das künftig auch für „biodeutsche“
Transferzahlungsempfänger gelten? Die Politik hat die Aufgabe, unsere
Werte zu vermitteln. Das funktioniert aber nicht durch
Lippenbekenntnisse.
Bei jungen Deutschen scheint die
Vermittlung nicht funktioniert zu haben. Gerade diese Gruppe bringt
Israel wenig Sympathie entgegen.
Bei den Jüngeren
ist die Zeit des Nationalsozialismus gefühlt ähnlich weit weg wie der
Erste Weltkrieg oder die Gründung des Kaiserreiches. Was junge Menschen
über die Grausamkeiten der Schoa hören, hat eine derart irrationale
Dimension, dass sie die Vorstellungskraft von vielen sprengt.
Gleichzeitig wachsen Jugendliche heute in Deutschland mit Schulbüchern
auf, in denen Israel nur als kriegsführendes Land thematisiert wird. Da
gibt es eine große Kommunikationsaufgabe, die aber nicht nur die
Politik, sondern auch Lehrer, Medien und andere Teile der Gesellschaft
fordert.
Wäre die Aufgabe ohne einen Benjamin Netanjahu leichter?
Sicherlich, manche Aussagen des israelischen Premier und der seit Jahren fortschreitende Siedlungsbau sind nicht hilfreich. Netanjahu
konterkariert mit Worten und Taten vieles, was eigentlich als
selbstverständlich gilt. Denken Sie zum Beispiel an die
Zweistaatenlösung. Die Vorbehalte gegenüber Israel würden mit einer
anderen Regierung aber auch nicht verschwinden. Ebenso scheint klar,
dass auch eine linke Mehrheit in der Knesset nicht ohne Weiteres eine
Friedenslösung zustande bringen würde.
Wieso nicht?Auf der Gegenseite hat sich im Konflikt zwischen Hamas und Fatah eine palästinensische Führung in einem korrupten System eingenistet, die das Leid der eigenen Bevölkerung verwaltet, Demokratisierung verhindert und entweder nicht willens oder in der Lage ist, einen tragfähigen Frieden auszuhandeln.
Und daraus folgt?
In Israel sieht kaum jemand einen gangbaren Weg Richtung Frieden. Die
Menschen sind enttäuscht, dass sie zum Beispiel als „Gegenleistung“ für
den Rückzug aus Gaza die Raketen der Hamas bekommen haben. Deshalb ist
derzeit auch niemand bereit, das Westjordanland einfach zu räumen. Das
wäre nur denkbar, wenn es ein schlüssiges, überzeugendes
Sicherheitskonzept geben würde.
Was schlagen Sie vor?
Wer will, dass die israelische Armee sich aus dem Westjordanland
zurückzieht, muss die Entmilitarisierung des Gebietes auf Dauer
gewährleisten. Da könnten Amerikaner und Europäer ein konkretes Angebot
machen. Das heißt aber auch, es muss tatsächlich Präsenz gezeigt werden.
Mit Worten allein ist es da nicht getan.
In Israel
ist die EU derzeit nicht gerade wohl gelitten. Die Kennzeichnungspflicht
für Siedlerprodukte gilt als eine Art Boykott. War Brüssel da gut
beraten?
Nicht jedes Argument in dieser Debatte
ist auch richtig und fair. Generell ist nichts gegen korrekte
Herkunftsangaben einzuwenden. Das ist deshalb auch kein Boykott Israels.
Ein solcher wird von der EU genauso abgelehnt wie von allen im
Bundestag vertretenen Parteien. Merkwürdig ist es allerdings, wenn diese
Pflicht nur für ein Land gelten soll. Bei der Kennzeichnung der Erzeugnisse aus dem Westjordanland oder von den Golanhöhen
nimmt es Brüssel offenbar ganz genau. Aber was ist mit Sekt von der
Krim? Oder mit Produkten aus der Westsahara, die Marokko besetzt hat? Da
gibt es offenkundig eine Unwucht. Die EU sollte deshalb das Völkerrecht
überall und konsequent anwenden, nicht nur bei Israel.
Soll
womöglich über die Kennzeichnungspflicht politischer Druck auf
Jerusalem ausgeübt werden, von der Siedlungspolitik Abstand zu nehmen?
Wenn das die Intention war, wofür es in den Papieren der EU keine
Hinweise gibt, dann ist das gründlich schiefgegangen. Ich war gerade mit
Bundespräsident Joachim Gauck in Israel und habe noch nie eine
derartige einheitliche Front der Ablehnung erlebt. Diese einseitige
Maßnahme hat Linke wie Rechte geeint, die Opposition hinter der
Regierung versammelt.
Was sollte die Bundesregierung tun?
Sie muss darauf achten, dass Israel nicht allein an den Pranger
gestellt wird, sondern diese Richtlinien auch bei anderen, ähnlich
gelagerten Fällen angewendet werden.
Volker Beck (Grüne) ist seit 2013 Vorsitzender der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe im Bundestag. Der Zentralrat der Juden hat ihn vor Kurzem mit dem Leo-Baeck-Preis geehrt.