Der Tagesspiegel, 14. März 2016

"So bürokratisch wie ein Staat”


Terrorismus-Experte Peter Neumann über die Buchführung des IS, detailierte Mitgliederlisten und sogenannte Rückkehrer

Herr Neumann, ein enttäuschtes Mitglied des “Islamischen Staats” hat einem britischen Sender umfangreiches Material über Dschihadisten zugespielt, die sich in der Vergangenheit der Terrorgruppe angeschlossen haben. In dem Datensatz finden sich Informationen wie Namen, Telefonnummer, Blutgruppe, Märtyrer-Bereitschaft und Kampferfahrung. Halten Sie diese Liste für authentisch?
Ja, hundertprozentig.


Was spricht für die Echtheit?

Neumann: Ich konnte mir diese Bögen mit den 22 000 Dokumenten zu geschätzt rund 1700-1800 Kämpfern schon vor einigen Tagen anschauen. Sie enthalten Informationen, die man in dieser Form unmöglich erfinden kann. Das ist alles sehr präzise, sehr detailliert. Und das in hunderten Fällen.

Wie bedeutsam sind die Listen?

Es gibt sicherlich noch wichtigere Dokumente. Im vergangenen Jahr zum Beispiel haben US-Soldaten bei einer Kommandoaktion einen hochrangigen Terroristen in Syrien getötet. Auf dessen Computer entdeckte man die gesamte Buchführung des “Islamischen Staats”, einschließlich aller Strukturen und Netzwerke. Das war ein Wendepunkt im militärischen Kampf gegen den IS. Doch auch die jetzt aufgetauchten Listen sind durchaus interessant und relevant.

Inwiefern?

Für Strafverfolgungsbehörden wird es jetzt wohl einfacher, eine Mitgliedschaft beim “Islamischen Staat “nachzuweisen. Die Angaben auf den Bögen sind da ja ganz eindeutig. Das heißt: Steht ein Dschihadist, ein sogenannter Rückkehrer vor Gericht, kann man ihn womöglich leichter verurteilen als es bisher der Fall war. Allerdings helfen die Dokumente kaum weiter, wenn es um den heutigen Kampf gegen den IS in Syrien und im Irak geht. Denn die Listen stammen offenbar vom Ende 2013, Anfang 2014. Viele der damaligen Mitglieder sind inzwischen tot.

Also ist der Datensatz nur bedingt von Nutzen?

Das würde ich nicht sagen. Wir erfahren etwa, wer mit wessen Hilfe nach Syrien ausgereist ist oder wer für wen bei der Führungriege des IS gebürgt hat. Daraus lassen sich womöglich Rückschlüsse auf Terrornetzwerke ziehen, die Anschläge in Europa planen. Die Nachrichtendienste können diese Informationen sicherlich gut gebrauchen.

Warum führt der Islamische Staat überhaupt dermaßen akribisch Buch? Das ist doch hochriskant.

Es ist einfach zu kurz gegriffen, im IS allein eine Terrororganisation zu sehen. Der “Islamische Staat” betrachtet sich selbst als Staat – ebenso wie sein Vorgänger Al Qaida im Irak. Deshalb wird der Aufbau einer eigenen Bürokratie energisch und konsequent vorangetrieben. Dazu gehört eben auch, dass der “Islamische Staat” in seinen dschihadistischen Kämpfern eine Armee sieht. Und wie bei jeder anderen regulären Truppe werden Informationen über die Soldaten gebraucht. Das erklärt die Existenz der Liste, die jetzt bekannt geworden ist.

Kontakt

Dr. Christian Böhme
Journalist

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