Der Tagesspiegel, 18. Juli 2016

Wie der Westen versagt

Der Syrienkrieg und das Leid der Menschen scheint keinen mehr zu interessieren. Auch, weil der Westen es sich nicht mit Putin verscherzen will

Auf eines ist in Syrien Verlass. Jede vollmundig angekündigte Waffenruhe endet schon, bevor sie überhaupt richtig in Kraft trifft. Auch die jüngste, Ende Februar ausgerufene Feuerpause macht da keine Ausnahme. Nur für ein paar Tage war es den geschundenen Menschen vergönnt, so etwas wie ein normales Leben zu führen. Einkaufen zu gehen, ohne ängstlich nach oben zu schauen. Kinder ohne die lähmende Furcht in die Schule zu schicken, sie könnten nicht mehr zurückkehren. Doch diese Art Unbeschwertheit hatte schnell ein Ende. Längst übertönen wieder detonierende Bomben das Gezwitscher der Vögel.

Sicher ist auch: Das Leid der Syrer kümmert den Westen und die sogenannte Staatengemeinschaft offenkundig ebenso wenig wie ihr Sterben. Ungeachtet der jüngsten Waffenruhe ist die Zahl der zivilen Opfer gerade in den vergangenen zwei, drei Monaten deutlich nach oben geschnellt. Weil trotz aller wortreichen Absichtserklärungen in vielen Regionen des Landes gekämpft wird. Weil Machthaber Baschar al Assad nach wie vor so unbehelligt wie gnadenlos auf dem Schlachtfeld Fakten schafft. Weil Moskau ihn dabei militärisch tatkräftig unterstützt. Und niemand Wladimir Putin daran hindert. Washington, Paris, Brüssel, London, Berlin – keine Widerworte sind zu hören. Das Schweigen zum Massenmord dröhnt lauter als jedes Mörsergeschoss.

Dabei gab es Ende vergangenen Jahres zumindest ansatzweise so etwas wie Engagement, den jahrelangen Krieg endlich zu beenden. Friedenskonferenzen wurden einberufen, Diplomaten beratschlagten, Kriegsparteien verhandelten. Doch das war eben die Zeit, als Syrer zu Hunderttausenden Einlass ins sichere Europa begehrten. Als ein Großteil von ihnen Schutz in Deutschland suchte. Inzwischen hat sich der wohlhabende Westen weitgehend erfolgreich abgeschottet. Und im gleichen Maße wie der Andrang nachlässt, sinkt das Interesse am Schicksal der Elenden irgendwo im dann eben doch fernen Nahen Osten. Wenn die Not nicht heftig an die Tür klopft, herrschen distanziertes Desinteresse und empathielose Gleichgültigkeit vor. Auch darauf ist Verlass.

Wie sehr der Westen versagt, seine eigenen Werte missachtet und verrät, zeigt sich gerade in Aleppo. Truppen des syrischen Diktators haben die seit Jahren belagerte Stadt jetzt vollständig eingekesselt. Die schätzungsweise 300.000 noch dort lebenden Einwohner sind damit von jeder Versorgung abgeschnitten. Nun droht den Menschen, die das Regime ablehnen, eine Hungerkatastrophe. Dafür ist auch Russland verantwortlich. Denn die von Moskau unterstützten Luftschläge haben Assads prestigereichen militärischen Erfolg überhaupt erst möglich gemacht.

Nur: Diese Erkenntnis ist weder überraschend noch wird sie Folgen haben. Keiner wagt es, sich mit dem Kremlchef ernsthaft anzulegen. Konfrontation war gestern. Heute ist Einvernehmen gefragt. Also schaut der Westen in Syrien einfach weg. Obwohl jedem klar sein dürfte, was der endgültige Fall Aleppos bedeutet. Werden die Rebellen und ihre islamistischen Mitstreiter besiegt, ist die sunnitische Bevölkerung der Willkür Assads und dessen schiitischen Milizen schutzlos ausgeliefert. Die Angst vor Racheaktionen ist bereits groß und keineswegs unbegründet. Genau das spielt religiösen Extremisten in die Hände. Und wird vor allem dem „Islamischen Staat“ einigen Zulauf bescheren.

Das alles ließe sich vielleicht noch verhindern - wenn der Westen seiner Verantwortung gerecht werden würde. Aber danach sieht es derzeit nicht aus. Von Entschlossenheit keine Spur, geschweige denn von Tatendrang. Schon gar nicht bei US-Präsident Barack Obama. Als selbsterklärter Führungsmacht wäre es an Amerika, der Gewalt Einhalt zu gebieten und Assad samt seinen Schergen endlich in die Schranken zu weisen. Doch darauf sollte niemand hoffen. Wer einmal rote Linien skizziert hat und dann deren Überschreiten schulterzuckend hingenommen hat, von dem ist Gegenwehr kaum zu erwarten. Obama überlässt vielmehr dem syrischen Herrscher und seinen machtpolitisch kaltschnäuzigen Verbündeten in Moskau das Terrain. Auch darauf ist Verlass. Wie darauf, dass der Krieg in Syrien auf absehbare Zeit kein Ende findet.

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Dr. Christian Böhme
Journalist

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