Der Tagesspiegel, 14. März 2017

"Der Zugang wird uns zu oft verwehrt"

Jakob Kern vom Welternährungsprogramm über Syriens abgeriegelte Gebiete und Millionen Hungernde

Herr Kern, wie viele Menschen in Syrien hungern?
Generell gilt: Am sechsten Jahrestag des Krieges ist die Lage schlimmer denn je. Dem Großteil der Bevölkerung mangelt es an allem Lebensnotwendigem. Zum Beispiel würden im Moment sieben Millionen Menschen ohne Nahrungshilfe wohl kaum über die Runden kommen. Und zwei Millionen droht das gleiche Schicksal. Das UN-Welternährungsprogramm unterstützt landesweit vier Millionen Syrer jeden Monat. Und das regelmäßig, trotz aller Probleme.

Die Hilfsorganisationen klagen immer wieder, dass es so schwierig sei, die Menschen zu versorgen. Woran liegt das?
Zum einen am fehlenden Geld. Die Programme sind oft unterfinanziert. Zum anderen bereiten uns aber vor allem die belagerten Gebiete große Sorgen. Dort leben schätzungsweise zwischen 600.000 und 700.000 Frauen, Kinder und Männer unter unfassbaren Bedingungen. Und die erreichen wir nur ganz sporadisch, vielleicht ein- bis zweimal im Jahr. Wenn es gut geht. Oft ist es für unsere Mitarbeiter auch viel zu gefährlich, sich dorthin zu begeben.

Heißt das, Ihnen als Helfer sind die Hände gebunden?
Der Zugang wird uns viel zu oft verwehrt. Denn die Belagerer haben in der Regel sehr wenig Interesse, einen Konvoi mit 50 Fahrzeugen samt Hilfsgütern in einen von ihnen eingekesselten Ort hineinzulassen. Denn ihr Ziel ist es ja gerade, die Menschen auszuhungern und dann zur Aufgabe zu zwingen.

Verweigern alle Kriegsparteien den Zugang zu abgeriegelten Regionen?
Die meisten Gebiete werden von den Soldaten der Regierung belagert. Einige hat der "Islamische Staat" abgesperrt, andere die Aufständischen. Und es geht immer darum, Genehmigungen für Hilfstransporte zu erhalten. Das ist schon schwierig genug. Nur selten haben wir die Zusage, dass die Kämpfe tatsächlich gestoppt werden, wenn wir kommen. Selbst wenn eine Erlaubnis vorliegt, hängt am Schluss es vom letzten Checkpoint ab, ob und vor allem wie schnell wir zu den Belagerten gelangen. Ich selbst musste schon einmal 20 Stunden auf den Einlass warten.

Wird Hunger weiter als Waffe eingesetzt?
Es ist nicht nur Hunger. Vielmehr versuchen die Konfliktparteien, den Menschen jede Art von Hilfe vorzuenthalten. Das schließt Medikamente, Decken und Kleider ein.

Wie muss man sich den Alltag in einem belagerten Ort vorstellen?
In ländlich geprägten Gebieten wie Ost-Ghouta nahe der Hauptstadt Damaskus können die Menschen zumindest in ganz bescheidenem Maß Getreide und Gemüse anbauen und sich so ansatzweise aus eigener Kraft versorgen. In den städtischen Zentren allerdings ist die Situation noch viel dramatischer. Die Menschen sind abhängig von dem Wenigen, das trotz der Belagerung zu ihnen gelangt. Durch Schmuggel beispielsweise. Preise für Lebensmittel sind für die meisten Bedürftigen jedoch unerschwinglich. Alle Ersparnisse sind längst aufgebraucht. Und nicht zuletzt: Es wird wieder heftiger gekämpft – und das ungeachtet der eigentlich geltenden Waffenruhe. Ich befürchte sogar, dass den belagerten Orten im Laufe des Jahres ein ähnliches Los droht wie Aleppo.

Apropos Aleppo: Bis zur Rückeroberung durch Regierungseinheiten Ende 2016 galt die frühere Metropole als ein schreckliches Beispiel für das Elend eines belagerten Ortes. Wie sieht es dort heute aus?
Aleppo erinnert auf fatale Weise an Städte, die während des Zweiten Weltkrieges in Schutt und Asche gebombt wurden: totale Zerstörung und Ruinen. Dennoch sind bereits 100.000 Einwohner in die einst abgeriegelten Bezirke zurückgekehrt. Sie sind allerdings völlig auf die Versorgung von außen angewiesen. Denn die Infrastruktur ist komplett zusammengebrochen. Es gibt weder Strom noch Treibstoff oder funktionierende Bäckereien. Wir liefern deshalb Brot und warme Mahlzeiten. Doch trotz der großen Not will niemand aufgeben. Die Menschen sagen: Das ist unser Zuhause, auch wenn es in Trümmern liegt.

Kontakt

Dr. Christian Böhme
Journalist

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