Der Tagesspiegel, 21. Januar 2018

"Ein Megalager für 650.000 Menschen im Nirgendwo"

DRK-Generalsekretär Reuter über den Alltag der geflohenen Rohingya und Bangladeschs Großzügigkeit

Herr Reuter, Sie sind soeben aus Bangladesch zurückgekehrt, wo sie Lager für die Rohingya besucht haben. Wie geht es den Schutzsuchenden dort?
Die Menschen leben unter katastrophalen Bedingungen direkt an der Grenze zu Myanmar. Mehr als 650.000 Menschen haben in einem riesigen Lager Zuflucht gefunden. Das ist wirklich ein Megacamp. Sie versuchen dort irgendwie über die Runden zu kommen. Es sind vor allem diejenigen, die seit August vergangenen Jahres vor der Gewalt in ihrer Heimat Myanmar geflohen sind. Mitten im Grenzgebiet ist so eine Landschaft von Behausungen entstanden. Kilometerweit erstrecken sich provisorische Hütten und Zelte. Das hat die Ausmaße einer deutschen Großstadt. Mit dem entscheidenden Unterschied: Es fehlt jede Art von Infrastruktur. 650.000 Geflüchtete haben sich mitten im Nirgendwo niedergelassen. Wir vom Deutschen Roten Kreuz betreuen allein 200.000 Menschen, vor allem Frauen und Kinder.

Was prägt den Alltag dieser Menschen?
Es leben dort unglaublich viele Leute auf sehr, sehr engem Raum. Und alle scheinen ständig in Bewegung zu sein. Es kommen immer noch neue Menschen an, Kinder holen Wasser zum Waschen und Kochen und junge Männer sind unterwegs, um Brennmaterial herbeizuschaffen. Und selbst, wenn bereits viel Hilfe geleistet wird: Die Menschen benötigen dringend Lebensmittel, Trinkwasser und medizinische Grundversorgung. Das funktioniert zwar halbwegs. Aber mehr ist es angesichts der riesigen Zahl der Bedürftigen eben auch nicht. Es gibt zum Beispiel erschreckend viele Totgeburten und eine hohe Säuglingssterblichkeit.

Wie ist das zu erklären?
Die Frauen sind körperlich und seelisch von der Gewalterfahrung ebenso wie von der Flucht gezeichnet. Das wirkt sich gerade in einer Schwangerschaft aus. Hinzu kommt die Gefahr von Infektionen wie Windpocken oder Masern. Vor allem aber sind die schlechten hygienischen Bedingungen und der fehlende Zugang zu medizinischer Versorgung die Hauptgründe. Die meisten Geburten finden immer noch zuhause – also in den Zelten und Bambushütten – und ohne jede medizinische Begleitung statt.

Berichten die Rohingya darüber, was sie vor und während ihrer Vertreibung durchgemacht haben?
Für die Mehrheit der Menschen, die sich ja gerade erst niedergelassen haben, ist im Moment vermeintlich Banales wichtig: Sie benötigen ausreichend zu essen, genügend zu trinken und saubere sanitäre Einrichtungen. Und man versucht sich zu organisieren. Es entstehen in diesem Megalager inzwischen wieder lokale Strukturen, die sich an früheren Dörfern orientieren. Aber wichtig ist für alle vor allem die Frage, wie es denn jetzt überhaupt weitergeht. Und wo.

Bangladesch und Myanmar haben sich jetzt darauf verständigt, dass binnen zwei Jahren die Rohingya in ihre Heimat zurückkehren sollen. Ab dem heutigen Montag könnten die ersten Familien nach Myanmar gebracht werden. Sind die Flüchtlinge überhaupt dazu bereit?
Das bezweifle ich. Die Menschen sind ja nicht freiwillig nach Bangladesch gegangen – sie sind vor der Gewalt in Myanmar geflohen. Trotz der katastrophalen Umstände wissen die Menschen immerhin, dass sie in den Camps in Bangladesch Schutz finden. Dass sie nicht verjagt werden. Warum also sollten die jetzt freiwillig dorthin gehen, wo sie ihres Lebens nicht sicher sein können. Und nicht zu vergessen: Nach wie vor setzen weitere Flüchtlinge alles daran, nach Bangladesch zu gelangen. Das Megacamp wächst also weiter.

Wie geht das arme Bangladesch mit dieser immensen Herausforderung um?
Das Land ist den Flüchtlingen von Anfang mit viel Großmut und Großzügigkeit begegnet. Es hat im Rahmen seiner Möglichkeiten den Menschen geholfen und den internationalen Hilfsorganisationen den Zugang zu den Bedürftigen ermöglicht. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Auch die Spannungen zwischen Einheimischen und Vertriebenen halten sich offenbar sehr in Grenzen. Nach allem, was ich gesehen und gehört habe, bemüht sich Bangladesch, den Geflohenen ein Überleben, ja, ein Leben zu ermöglichen.

Kontakt

Dr. Christian Böhme
Journalist

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