The European, 2. Februar 2012

Erhebt euch, Teutonen!

Als letztes großes europäisches Land scheint die Merkel-Nation noch potent genug, den Kontinent aus der Krise zu holen - doch traut sich Deutschland, andere zu führen?

Ein Gespenst geht um. Zurückgekehrt aus uralten Zeiten, als es Angst und Schrecken verbreitete. Nach Jahrzehnten entspannender Ruhe bemächtigt sich dieser böse Geist wieder vieler Köpfe. Man fürchtet ihn, hält ihn für egoistisch, arrogant und höchstgefährlich. Denn er will, so lautet der Verdacht, den anderen seinen Willen aufzwingen, sie unterwerfen und beherrschen. Erst Europa, dann vermutlich die ganze Welt. Das ist das Ziel, und die Währungs-, Schulden- und Sinn-Krise dient als willkommenes Mittel zum Zweck. Also nehmt euch in Acht vor diesem schauerlichen Gespenst namens Deutschland!

Ja, da ist er wieder, der hässliche Germane. Angehöriger eines Volkes, das nur sich selbst im Sinn hat. Aus dem Vorbild Deutschland ist innerhalb kurzer Zeit ein Zerrbild geworden. Griechen, Franzosen, Briten und Italiener – sie fühlen sich bedroht, unterstellen Berlin und der regierenden Kanzlerin Nationalismus und einen kaum kaschierten Eroberungsdrang. Wie konnte es nur dazu kommen? Wo ist die Bewunderung geblieben für ein Deutschland, das doch fast klaglos den braven Zahlmeister des Kontinents gibt? Und wird nicht permanent von Merkel und ihren Ministern gefordert, die Führungsrolle in diesen unübersichtlichen Zeiten zu übernehmen? Sogar der Internationale Währungsfonds und die USA fordern teutonische Tatkraft ein. Das passt doch nicht zusammen. Oder doch? So stehen wir nun selbst enttäuscht und sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.

Noch vor knapp einem Jahr sah die Welt aus hiesiger Sicht viel rosiger aus. Da war Deutschland beliebt, sehr beliebt, laut einer Umfrage der britischen BBC sogar der beliebteste Staat weltweit. Eine heitere Nation, die düstere Zeiten verantwortungsvoll „aufgearbeitet“ und eine Teilung hinter sich gelassen hatte. Gelobt für ein erfolgreiches, weil weitgehend krisenresistentes Wirtschaftsmodell. Ein fortschrittliches Land, die Gegenwart im Blick und der Zukunft zugewandt.

Doch ein paar kleine taktisch-politische Fehltritte später zählt das alles nur noch wenig. Nun schießen Verdächtigungen und Vorurteile ins Kraut. Und manch einer wünscht sich das alte, das langweilige, das biedere, etwas devote und zwergenhafte Ich-Halte-Mich-Aus-Allem-Raus-Deutschland zurück. Aber daraus wird nichts. Und das ist auch aus Sicht unserer Nachbarn eine gute Nachricht.

Denn das demokratische Deutschland, so formulierte es jüngst der Autor Reinhard Mohr im Magazin „Cicero“ treffend, ist erwachsen geworden. Es nützt keinem in Europa, wenn sich die Bundesrepublik kleiner macht, als sie ist. Im Gegenteil. Wer so gut und stark dasteht wie derzeit Deutschland, muss gewillt sein – jenseits von auftrumpfender Überheblichkeit –, Verantwortung zu übernehmen. In Vogel-Strauß-Manier wegducken, das war einmal. Jetzt gilt es, mit einer AAA-Bonität im Rücken in der ersten Reihe mitzugestalten.

Dazu bedarf es allerdings großer Besonnenheit und Klugheit. Berlins jüngster Vorstoß, einen Sparkommissar für Griechenland einzusetzen, oder die Verweigerungshaltung gegenüber Eurobonds zeugen nur vermeintlich von Souveränität und Weitsicht. Sie sind vielmehr dazu angetan, gängige Ressentiments zu bedienen: Deutschland geriere sich quasi als Besatzer und lässt gleichzeitig die nötige Solidarität für ein gemeinsames Vorgehen gegen die Euro-Krise vermissen. Das mag an den Haaren herbeigezogen sein. Dennoch bedarf es beim Beackern eines derart heiklen Terrains wie der Währungsunion deutlich mehr Fingerspitzengefühls, auch wenn die Wünsche des finanzstärksten Geldgebers nur allzu verständlich sind. Und die Dramatik der Finanzkrise ist wahrlich nicht dazu angetan, vertrauensbildend zu wirken. Aber aus gegenseitigem Vertrauen besteht genau die Währung, die Europa dringender denn je benötigt.

Eine entscheidende Voraussetzung dafür ist, sich von überkommenen Vorbehalten endgültig zu verabschieden. Für die EU-Staaten bedeutet das, nicht hinter jedem Vorschlag aus Berlin den ersten Stiefelschritt auf dem Weg ins Vierte Reich zu wittern. Bei allem berechtigten Eigeninteresse hat das Deutschland von heute sehr wohl das Gemeinwohl Europas im Blick. Schließlich profitiert man von der EU, wirtschaftlich und politisch. Blanker Egoismus und einsame Entscheidungen sind da fehl am Platz. Alles und alle sind längst mit allem und allen verbunden. Ob es uns passt oder nicht – jeder weiß um die Gegebenheiten.

Deutschland wiederum muss lernen, was es mit sich bringt, eine selbstbewusste Nation zu sein: eigene Stärken und Schwächen kennen und Verantwortung übernehmen – für sich und andere. Kein leichtes Unterfangen auf dem spiegelglatten Parkett der Diplomatie mit ihren zahllosen politischen Fallstricken. Und Deutschland tut sich sichtlich schwer damit, nicht ins Schlingern zu geraten. Da fehlt es nach wie vor an Mumm, Courage und Selbstvertrauen. Warum so zurückhaltend? Die Zeiten der zaudernden Großmacht sind ebenso vorbei wie die der Angst verbreitenden, herrschsüchtigen Gespenster.

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Dr. Christian Böhme
Journalist

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