Der Tagesspiegel, 19. Dezember 2012

Die Angst des Stefanos Kotsalaras

Immer mehr griechische Familien verarmen. Die Mittelschicht bricht auseinander - und der Staat ist machtlos. Doch es gibt Hilfe

Vor einem Jahr war die bescheidene Welt der Kotsalaras’ noch in Ordnung. Viel leisten konnte sich die Athener Familie zwar nicht. Aber mit dem Geld, das Vater Stefanos und seine Frau Labrini gemeinsam verdienten, reichte es zumindest für die Ausbildung der beiden Kinder. Satt sind sie irgendwie auch immer geworden. Manchmal konnten sich die Eltern sogar einen Theater- oder Kinobesuch erlauben. Ein einfaches Leben, doch immerhin eines, das zumindest kleine Freuden bereithielt. Dann verlor Stefanos seine Arbeit als Fliesenleger – und ein Stück Lebensfreude.

Ein Schicksal, welches inzwischen immer mehr Griechen teilen. Seit Jahren setzt die Finanz- und Wirtschaftskrise dem Land und vor allem den Menschen zu. Allerdings hat die Misere in den vergangenen Monaten geradezu katastrophale Ausmaße angenommen. Vieles mag selbst verschuldet sein. Das geben die Menschen ohne Weiteres zu und verweisen zum Beispiel auf die Korruption, Schwarzarbeit oder den öffentlichen Dienst, diesen nimmersatten Moloch. Aber das Wissen um die Probleme allein schafft keine Lösungen. Und der Staat ist pleite, scheidet also in Zeiten der alles beherrschenden Krise als handlungsfähiger Akteur fast völlig aus. Noch lähmender wirkt sich die Arbeitslosigkeit aus. Sie steigt rasant an. Heute hat jeder vierte Grieche keinen Job. Bei den Jugendlichen liegt die Quote gar bei 50 Prozent. Eine beängstigende Größenordnung. Eine, die den Staat und die ihn tragende Gesellschaft in den Grundfesten erschüttert.

Bei Familie Kotsalaras war bereits nach einigen Monaten nichts mehr wie früher. Vieles, wenn nicht gar alles, schien in die Brüche zu gehen. Das Auto, der Alltag, die Zuversicht, die Zukunft. Die Einkäufe im Supermarkt beschränkten sich rasch auf das Allernötigste. Hauptsache, die nächste Strom- und Heizungsrechnung konnte bezahlt werden. Für mehr war schlicht kein Geld da. Schon nach kurzer Zeit gehörte der „Luxus“ eines Kinobesuchs der Vergangenheit an. „Wir wissen gar nicht mehr, was es heißt, mal abzuschalten“, sagt Labrini und streift sich etwas verunsichert durch ihr dunkles Haar. So sitzt das Ehepaar zumeist zu Hause in ihrer kleinen Wohnung. Die eigenen vier Wände – ein Käfig aus Trübsinn und Einsamkeit. Nie hätten sie dies für möglich gehalten. Eine verstörende, eine schmerzhafte Erfahrung.

Nach einigen Monaten dieser lähmenden, bleiernen Schwere waren die Kotsalaras’ so verzweifelt, dass sie ihren Stolz hinter sich ließen. Die Familie brauchte Hilfe, dringend. Da erzählte ihnen ein Freund von dem Sozialzentrum der „SOS-Kinderdörfer“ in ihrem Stadtteil Kypseli. Dort würde man in Not geratenen Menschen sofort, direkt und unbürokratisch helfen. Vielleicht ein Lichtblick in dunklen Zeiten.Als Stefanos und seine 48-jährige Frau zum ersten Mal das unscheinbare mehrstöckige Haus betraten und die Steintreppe hinaufliefen, schämten sich beide. „Wir fühlten uns würdelos“, sagt Stefanos. Den Blick hat er gesenkt, unter dem Tisch knetet der 50-Jährige mit den grauen Haaren und dem faltigen Gesicht seine Finger, denen man die Arbeit immer noch ansieht. Nie war er auf die Hilfe anderer angewiesen, konnte für seine Familie sorgen.

War, konnte. Heute sind Labrini und Stefanos froh darüber, dass sich jemand um sie kümmert.Familie Kotsalaras ist längst keine Ausnahme mehr. Tausenden Griechen geht es ähnlich schlecht. Die Krise raubt ihnen die Existenzgrundlage. Und es sind nicht nur die Armen, die ärmer werden. Inzwischen trifft es zunehmend auch diejenigen, die bislang immer noch genug hatten, um sich über Wasser zu halten. „Die Mittelschicht bricht zusehends auseinander. Sie beginnt sich aufzulösen, abzurutschen“, warnt Stergios Sifinios, Leiter der sechs SOS-Sozialzentren in Griechenland. Genau die Art und Weise, wie der schlanke Mann das sagt – ohne jegliches Beben in der Stimme, geradezu nüchtern berichtend –, klingt dramatisch. „Die Menschen werden depressiv, verzweifeln, glauben nicht an ein besseres Morgen.“ Diese fatale Stimmung wirke sich rasch auf die ganze Familie aus, die doch eigentlich Halt in einer unberechenbaren, feindlich wirkenden Welt geben soll. Häufig gebe es Streit, denke nur noch an sich und sein Leid. Die Bindung geht verloren.

Genau an dieser Stelle setzt „SOS-Kinderdörfer weltweit“ an. Die vom Philanthropen Hermann Gmeiner 1949 gegründete Hilfsorganisation hat ihr „Familienstärkungsprogramm“ in Griechenland im Frühjahr erheblich ausgebaut. Der Bedarf ist enorm. Allein in Athen betreut das dortige SOS-Sozialzentrum derzeit 240 Familien. Und täglich werden es mehr. Die Pädagogen, Logopäden, Therapeuten und vielen anderen Helfer sind ausgelastet, hin und wieder vielleicht sogar überlastet. Aber ihre Schützlinge brauchen nun einmal Hilfe, oft monatelang: Lebensmittel, Kleidung, Unterstützung bei der Arbeitssuche, Nachhilfe für die Kinder, eine Menge Zuspruch und psychologische Betreuung. Denn es geht vorrangig darum, ein Auseinanderbrechen der Familien zu verhindern. Gelingt dies nicht, sind Töchter und Söhne oft die ersten Leidtragenden.

Kaum einer weiß das besser als die Verantwortlichen bei den SOS-Kinderdörfern.Immer häufiger versuchen verzweifelte Eltern – obwohl das in der griechischen Gesellschaft als Schande gilt –, ihre Jüngsten in die Obhut der Organisation zu geben. Aber die Einrichtungen sind für derartige Fälle weder gemacht noch gedacht. Wie in dem kleinen Ort Vari südlich von Athen werden generell jene aufgenommen, die dringend ein Heim, eine Familie brauchen, weil es die Mutter oder den Vater nicht mehr gibt oder ihnen von einem Gericht das Sorgerecht entzogen wurde. Dennoch hat man sich vergangenes Jahr bereit erklärt, einige Kindern, deren Eltern finanziell nicht mehr über die Runden kommen, ein neues Zuhause zu geben.

Aber das sei eben keineswegs Sinn der Sache, sagt Giorgios Protopapas, Direktor der  SOS-Kinderdörfer in Griechenland. Man habe ohnehin mit erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. „Dass der Staat sich finanziell nicht an unserer Arbeit beteiligt, das wissen wir. Dass er jedoch seit einiger Zeit Steuern auf die bei uns immer seltener eingehenden Spenden erhebt, ist ein Skandal.“ Mit dem Geld, das an den Fiskus jedes Jahr abgeführt werden müsse, „könnte man einer Menge elternloser Kinder ein Heim geben“. Oder den bereits in den SOS-Dörfern lebenden Mädchen und Jungen etwas Gutes tun. Schließlich ist die Krise auch dort ein großes Thema. „Die Kinder spüren, dass sich etwas ändert“, sagt Pavlos Salichos, einer von vier Pädagogen in Vari. Deshalb sei es so wichtig, dass sie sich weder schuldig fühlen noch vor der Zukunft fürchten – selbst wenn das Taschengeld mal einen Monat ausbleibt. Schließlich müssten sie später als Erwachsene ihr Leben allein meistern, ohne gleich bei den ersten Hindernissen zu verzweifeln.

Das mag plausibel klingen. Doch was ist, wenn die Krise eine Familie fest im Griff hat? Wie soll sie sich daraus befreien? Den Kotsalaras’ würde eine Antwort auf diese Fragen wohl schwerfallen. Jetzt, da die finanzielle Not ihnen derart zusetzt, dass sie glauben, ohne Hilfe von außen nicht mehr auf die Beine zu kommen. Deshalb kommt es aus Sicht der Mitarbeiter des SOS-Sozialzentrums vor allem darauf an, die Menschen emotional wieder aufzurichten, ihnen die Würde zurückzugeben. So weit ist es bei Stefanos Kotsalaras, dem Fliesenleger aus Athen, noch nicht. Denn eigentlich wünscht er sich nur sein altes, bescheidenes Leben zurück.     

Kontakt

Dr. Christian Böhme
Journalist

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