Der Tagesspiegel, 29. April 2013

Aus Sand gebaut

Mehr als 100.000 syrische Flüchtlinge leben im Lager Zaatari an der jordanischen Grenzen. Und täglich werden es mehr. Den Menschen mangelt es an vielem - auch ein einer Perspektive

Wer Zaher al Kudsis winzige Welt betritt, kommt sofort ins Schwitzen. Die Hitze in seinem Ein-Raum-Zelt ist drückend wie in einer Sauna. Dabei scheint an diesem Apriltag nur die Frühlingssonne vom wolkenlosen Himmel. Richtig heiß wird es erst in den kommenden Sommermonaten. Bis auf 50 Grad kann dann die Temperatur steigen. Welche klimatischen Bedingungen im Juli oder August in der primitiven Behausung herrschen werden, möchte man sich lieber nicht vorstellen. Doch was soll Zaher al Kudsi machen? Wo soll der 32-Jährige mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern hin? Sein Leben bietet seit einigen Wochen keine Alternativen mehr.

Wie auch? Der Mann mit dem Schnauzbart und den dunklen Haaren ist einer von inzwischen schätzungsweise vier Millionen syrischen Flüchtlingen. Zaher al Kudsi lebt jetzt im Lager Zaatari. Gemeinsam mit mehr als 100 000 anderen Menschen, die das Bürgerkriegsland verlassen mussten und hier im Norden Jordaniens eine behelfsmäßige Unterkunft gefunden haben. Die Grenze ist zwar nur ein paar Kilometer entfernt. Doch die alte Heimat, zerstört durch nicht enden wollende Gewalt, existiert nicht mehr.

Bevor der Aufstand gegen Syriens Machthaber Baschar al Assad begann, ist Zaher al Kudsi als Englischlehrer einigermaßen über die Runden gekommen. Eine bescheidene Wohnung, ein bisschen Geld. Nicht viel, aber genug zum Leben. Doch dann kam der Krieg nach Daraa. Die Stadt im Südwesten des Landes galt von Anfang an als Protesthochburg der Rebellen. Die Reaktion des Regimes ließ nicht lange auf sich warten. Panzer rückten in Daraa ein, Soldaten gingen nach Angaben der Opposition mit großer Härte gegen Demonstranten vor. „Wir hatten einfach Angst“, sagt Zaher al Kudsi. Irgendwann hielten sie es nicht mehr aus und flohen. Ihr Gepäck bestand nur aus der bangen Hoffnung auf ein besseres Leben. Die Grenze überquerte die Familie im Schutze der Nacht und mithilfe der Kämpfer der Freien Syrischen Armee. Von den Jordaniern wurden sie morgens registriert und direkt nach Zaatari gebracht. Dort, wo die Weltgemeinschaft versucht, ihnen ein halbwegs menschenwürdiges Zuhause zu ermöglichen. Ein vorübergehendes, heißt es. Eines auf Dauer, ahnt man.

Zaher al Kudsi würde allerdings derartige Überlegungen für sich selbst und die Familie wohl entschieden zurückweisen. Im hellen Polohemd, dunkelblauer Trainingshose und Sandalen steht er vor dem mit gelblichem Staub überzogenen, einstmals weißen Zelt und sagt, als sei es eine Selbstverständlichkeit: „Ich will auf jeden Fall nach Syrien zurück. Lieber heute als morgen!“ Die umstehenden Männer nicken zustimmend. Das sei schließlich hier kein Leben, fügt er leise hinzu und zeigt auf seine wenige Quadratmeter kleine Unterkunft. Auf dem von einem einfachen Teppich bedeckten Boden liegen vier dunkelgraue Matratzen. In einer Ecke stehen hohe Glasgefäße mit eingelegtem Gemüse. Dazu Oliven und etwas Fladenbrot. Im hinteren Teil des stickigen Zeltes stapeln sich ein paar Blechtöpfe, daneben ein kleiner Kocher und eine Teekanne. Von einer Plastikstange herab baumelt eine Leitung samt Glühbirne. Zaher al Kudsi schaut sich um und zuckt mit den Schultern. So als wolle er sagen: Seht her. Wie soll man unter diesen Bedingungen ein halbwegs erträgliches Leben führen?

Diese Frage würden vermutlich fast alle Bewohner des Flüchtlingslagers Zaatari so oder ähnlich stellen. All die Menschen leben hier mitten in einer umzäunten, 4,5 Quadratkilometer großen Landschaft aus Sand und Schotter. Zelte wie einfache Wohncontainer, so weit das Auge reicht. Und täglich kommen neue hinzu. Zwar verlassen immer wieder zahlreiche Menschen frustriert den Ort, der inzwischen zur fünftgrößten Stadt Jordaniens herangewachsen ist. Doch weitaus mehr Syrer suchen Tag für Tag in Zaatari Zuflucht, wenn sie nicht in den umliegenden Gemeinden eine Bleibe finden. Das von den UN verwaltete Camp hat längst eine Dimension erreicht, die die Hilfsorganisationen vor erhebliche Herausforderungen stellt, logistisch wie finanziell. Deutschland hat als einer der größten Geldgeber 35 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um den Menschen eine Grundversorgung zu ermöglichen. Nahrung, Strom, Sanitäranlagen, Lazarette, Schulen, Spielplätze – gerade in Zaatari wird alles benötigt. Bedarf und Bedürfnisse sind immens. Die Probleme auch.

Zwei Drittel der Lagerbewohner sind Frauen, Kinder und Jugendliche. Menschen, die Schlimmes durchgemacht haben, zum Teil traumatisiert sind und jetzt, herausgerissen aus ihrem alten Leben, gegen die Langeweile ankämpfen. Denn es gibt im Grunde nichts zu tun. Mal Wasser holen, mal in einem der Küchenräume etwas kochen. Nur wenige haben die Chance, wenigstens ein paar Stunden am Tag zu arbeiten. So wie Zaher al Kudsi, der einen Spielplatz beaufsichtigt. Von dem Geld, das er dabei verdient, kauft sich der einstige Schulangestellte dann, was die vielen kleinen Stände in der Hauptstraße des Lagers zu bieten haben. Und das ist eine ganze Menge. Wellblechhütte folgt auf Wellblechhütte. Angeboten werden zum Beispiel Süßigkeiten, Gemüse, Zigaretten und Spielzeug. Wie all das ins bewachte Lager gelangt, können sich die Verantwortlichen nicht so recht erklären. Sie sind ohnehin, wie etwa das Technische Hilfswerk, mit ganz anderen Aufgaben konfrontiert. Zum Beispiel unter hygienisch halbwegs akzeptablen Bedingungen die Wasserversorgung zu gewährleisten. Ein logistisches Mammutprojekt.

Sanitäranlagen, Duschen – der Frauenbereich mit Sichtschutz – und Wasserausgabestellen mussten errichtet werden. Erst waren es „einfache“ Strukturen, die jetzt durch „feste“ ersetzt werden. Das heißt, die Anlagen sind aus Mauerwerk, damit sie Wind und Wetter standhalten. Doch ohne die Tankwagen würde das alles nicht funktionieren. Grüne Lkw bringen Nutz- und Trinkwasser ins Camp hinein, orangefarbene fahren das Abwasser wieder hinaus. Jeden Tag, pausenlos. Dennoch sind viele Campbewohner unzufrieden. „Es gibt zu wenig Wasser“, klagt auch Zaher al Kudsi. Und das wenige sei kaum genießbar.

Aber woher sollte mehr und besseres Wasser kommen? Jordanien besteht zu 80 Prozent aus Wüste. Das Land gehört zu den wasserärmsten Staaten der Welt. Selbst in der Hauptstadt Amman können sich nur die Reichen große Vorratsbehälter auf ihren Dächern leisten. Die meisten Menschen bekommen nur einmal die Woche frisches Wasser. In den Dörfern kann es auch schon mal zwei Wochen dauern, bis etwas durch die oft lecken Leitungen fließt oder ein Lastwagen mit dem kostbaren Nass vorfährt. Kein Wunder, dass viele Jordanier  über die Flüchtlinge aus Syrien schimpfen, die das knappe Gut immer noch knapper werden lassen.

Ohnehin hat das Haschemitische Königreich erheblich mit den Folgen des Bürgerkriegs im Nachbarland zu kämpfen. Schätzungen gehen davon aus, dass inzwischen mehr als 400 000 Menschen in Jordanien Schutz vor der anhaltenden Gewalt suchen. Am Ende des Jahres könnte ihre Zahl bis auf eine Million steigen. Für einen Staat mit gerade mal sechs Millionen Einwohnern ist das eine echte Zerreißprobe. Zumal Jordanien bereits in den vergangenen Jahrzehnten Flüchtlinge aufgenommen hat: palästinensische. Mittlerweile stellen sie die Bevölkerungsmehrheit, was immer wieder zu politischen und sozialen Spannungen führt – nicht zuletzt, wenn es um das schwierige Verhältnis zu Israel geht.

All diese Probleme dürften Zaher al Kudsi kaum interessieren. Für ihn und seine kleine Familie geht es schlicht darum, den Alltag zu meistern und sich ein neues Leben aufzubauen. Denn dass sie bald in ihr altes zurückkehren können, gilt angesichts der dramatischen Lage in Syrien als ausgeschlossen. Und selbst wenn, stünden die al Kudsis wohl nur vor einem Trümmerhaufen aus verloren gegangenen Hoffnungen.

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Dr. Christian Böhme
Journalist

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