Der Tagesspiegel, 13. Mai 2013

"Schreckliche Bedingungen"

Alfredo Melgarejo, Delegierter des Roten Kreuzes in Damaskus, über das Leid der Syrer und den Zwang zur Neutralität

Herr Melgarejo, Sie haben in den vergangenen sechs Monaten für das Deutsche Rote Kreuz in Damaskus die humanitäre Hilfe koordiniert. Wie dramatisch ist die Lage in der syrischen Hauptstadt?
Zwei Drittel von Damaskus sind praktisch Kriegsgebiet. Tausende Menschen sind dort ständigen Granatenangriffen ausgesetzt. Immer wieder gibt es Schusswechsel. Fast das gesamte tägliche Leben spielt sich unter diesen schrecklichen Bedingungen ab. Hinzu kommt, dass sich überall in der Stadt Kontrollpunkte der Bürgerkriegskontrahenten befinden. Mitunter dauert es dadurch Stunden, um zum Beispiel zur Arbeit zu kommen.

Kann unter diesen Bedingungen den notleidenden Menschen überhaupt geholfen werden?
Ja, gerade der Syrische Rote Halbmond, unsere Partnerorganisation, ist sehr wohl in der Lage, die Menschen zu erreichen. Auch in den umkämpften Gebieten außerhalb der größeren Städte. Dabei kommt ihm zugute, dass er Zugang zu den verschiedenen Konfliktparteien hat. Alle Hilfsgüter, auch die der UN oder der EU, werden vom Roten Halbmond an Ort und Stelle verteilt.

Wie funktioniert das?
Der größte Teil der Hilfspakete kommt über die UN ins Land. Diese werden dann in verschiedenen Logistikzentren gesammelt und von dort mit Hilfe von Lastwagen des Roten Halbmonds in die Provinzen gebracht. Das sind zumeist große Konvois mit bis zu 20 Fahrzeugen. Damit die Güter ihr Ziel erreichen, ist es unabdingbar, vor und während des Transports Sicherheitsgarantien einzuholen – von allen Konfliktparteien. Es muss klar sein, dass die Waffen zumindest während unserer Einsätze schweigen.

Sowohl das Assad-Regime als auch dessen Gegner lassen die Hilfsorganisationen ungehindert gewähren?
Das schon. Aber es bedarf tagtäglich großer Überzeugungsarbeit. Wir müssen immer wieder unsere politische Neutralität unter Beweis stellen, müssen den jeweiligen lokalen Herrschern klar machen, dass wir uns nur der Not der Menschen verpflichtet fühlen.

Woran mangelt es den Syrern am meisten?
In erster Linie überlebenswichtige Güter: Nahrung, sauberes Wasser, Hygieneartikel sowie Medikamente und medizinisches Gerät. Wir verteilen monatlich rund 450 000 Lebensmittelpakete, der Bedarf liegt aber bei 800 000. Die Hilfe reicht also bei weitem nicht aus.

Wie würden Sie die Lage in Syrien beschreiben?
Wir haben es mit einer humanitären Katastrophe zu tun. 25 Prozent der Bevölkerung sind von direkter Hilfe abhängig. Sie müssen ständig mit Lebensmitteln, Seifen und anderen Dingen des täglichen Bedarfs versorgt werden. Landesweit haben mindestens 40 Prozent der Syrer seit Monaten keine Arbeit mehr, in den umkämpften Gebieten sind es sogar 80 Prozent. Die Menschen haben oftmals ihre Lebensgrundlage verloren. Es gibt zwar eine große Solidarität. Aber ohne die Hilfe von außen kommen die Menschen nicht mehr über die Runden.

Hat das Land nach mehr als zwei Jahren Bürgerkrieg noch eine Perspektive?
Leider ist die Situation derzeit so, dass man von einem lang anhaltenden Konflikt ausgehen muss.Über Jahre hinweg?Melgarejo: Das ist schlimmstenfalls zu befürchten. Man kann nur hoffen, dass sich die Staatengemeinschaft weiterhin für den Konflikt interessiert und bereit ist, die Bedürftigen zu unterstützen.

Wäre eine militärische Intervention von außen eine Möglichkeit, den Bürgerkrieg zu beenden?
Aus Sicht des Roten Kreuzes steht allein das Schicksal der Menschen im Vordergrund. Ihnen muss mit dem Allernotwendigsten geholfen werden. Je mehr Akteure in diesem Konflikt eine Rolle spielen, desto mehr könnte sich die Lage noch verschärfen.

Alfredo Melgarejo ist Delegierter des Deutschen Roten Kreuzes in Damaskus. Der 50-Jährige ist seit Jahren für die Hilforganisation tätig, unter anderem koordinierte er deren Arbeit in Lateinamerika.

Kontakt

Dr. Christian Böhme
Journalist

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