Jungle World, 22. Mai 2014

Mehr Wurst!

Böhmische Dörfer (40): Warum der European Song Contest ein Vorbild für die EU-Wahlen ist

Für Russlands Rechtsaußen Wladimir Schirinowski konnte es wohl kaum schlimer kommen. “Das ist Europas Ende”, polterte der extremistisch gesinnte Schreihals nach dem Sieg einer österreichischen Dragqueen namens Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest. Nun könnten einem die Schirinowskis dieser Welt schnurzpiepegal sein. Sollen sie doch ruhig weiter herumpöbeln und Intoleranz predigen. Wenn kümmert’s? Das Problem ist allerdings: Es gibt eine ganze Menge Krakeler, die nicht nur schwulenfeindlich sind, sondern generell etwas gegen eine offene Gesellschaft haben. Und das im ach so aufgeklärten Europa des 21. Jahrhunderts.

Aber zum Glück gibt es ja noch die vielen anderen. Jene, die das Gut der Freiheit schätzen und bereit sind, sich dafür zu engagieren. Genau das zeichnete den diesjährigen Song Contest aus, machte ihn zu einem ungewöhnlichen Politikum – und zu einer Werbeveranstaltung für das heutige Europa. Denn der kontinentale Wettbewerb geriet vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise zu einem Votum über grundlegende Werte. Ein Funke, der offenkundig zündete. Dafür gibt’s im Nachhinein 12 Punkte.

Ein paar Tage später dann das Kontrastprogramm. Europaweit wurde das TV-Duell der EU-Spitzenkandidaten der großen Parteienbündnisse übertragen. Und man musste schon ein großer Fan derartiger Veranstaltungen sein, um dieser Fernsehdebatte etwas abgewinnen zu können. Die handzahmen Kontrahenten bewarfen sich und die Zuschauer zumeist mit Schlagwörtern wie Putin, Sanktionen, Finanzströme, Solidarität, Arbeitslosigkeit oder Energie. Dazu gab es abgedroschene Phrasen, Politikersprech und kaum nennenswerte Konfrontation. Alles in allem eine ziemlich bürokratisch anmutende Veranstaltung.  Als Werbeveranstaltung für die Wahl zum EU-Parlament, als Anreiz dafür, sein Mitbestimmungsrecht am 25. Mai zu nutzen, war dieses Duell jedenfalls ein Flop. Es fehlte ihm das Emotionale, also der Pep.

Und so war sie schon nach wenigen Minuten da: die melancholische Erinnerung an den Song Contest. Nicht unbedingt wegen dessen musikalischer Klasse oder ausgefeilter Choreografien. Sondern schlicht, weil Stimmung in der Bude war. Weil man selbst als Fernsehkonsument die Chance hatte, für etwas Partei zu ergreifen und von Sympathien wie Antipathien gesteuert Punkte zu vergeben. Genau das fehlt den immer noch arg konventionell daher kommenden TV-“Duellen”. Deshalb hier der Appell an alle Fernsehverantwortlichen: Gebt dem Zuschauer die Chance mitzumischen. Lasst sie nach der Sendung über “ihre” Kandidaten für Europa abstimmen und entscheiden, wer seine Sache wirklich gut gemacht hat. Zwölf Punkte hier, sechs Punkte da - so kann man den Bürgern die Europäische Union schmackhaft machen. Conchita sei dank.

Kontakt

Dr. Christian Böhme
Journalist

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