Der Tagesspiegel, 13. Oktober 2014

"Die Blockade muss enden"

Pierre Krähenbühl, Generaldirektor des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge, über die Not in Gaza, den Wiederaufbau des Küstenstreifens und den Nahostkonflikt

Herr Krähenbühl, zerstörte Wohnblocks, kaputte Schulen, beschädigte Wasserleitungen, verwüstete Krankenhäuser - Gaza gleicht nach 50 Tagen Krieg einem Trümmerfeld. Wie groß ist das Ausmaß der Schäden?

Riesengroß. Man kann das gar nicht mit den vorausgegangenen Kriegen vergleichen. Die Bevölkerung hat die jüngsten Kämpfe selbst am besten beschrieben: Sie fühlten sich dieses Mal nirgendwo sicher. Während der israelischen Militäroperation "Gegossenes Blei" Ende 2008, Anfang 2009 war das noch anders. Da gab es Stadtteile, die einen gewissen Schutz boten. Nach unserer Schätzung wurden jetzt 70 000 bis 80 000 Wohneinheiten schwer oder völlig zerstört. Nach einer Vertriebenen-Krise haben wir es nun mit einer Obdachlosen-Krise zu tun.

Das bedeutet?

Es gibt bis zu 120 000 Menschen, die nicht mehr in ihre Häuser zurückkehren können. Und der Winter steht vor der Tür. Aber man darf auch nicht vergessen: Beim jüngsten Gazakrieg kamen viele Palästinenser ums Leben, unter den Opfern waren 500 Kinder.

Wie viel Geld wird für den Wiederaufbau benötigt?

Nach dem Krieg 2008/9 ging es um ungefähr fünf Milliarden Dollar. Das Ausmaß der Zerstörung ist dieses Mal aber noch viel weitgehender. Es wird also mehr Kosten, den Küstenstreifen wiederaufzubauen. Vermutlich benötigt allein UNWRA rund eine Milliarde Dollar, um den elementarsten Bedarf zu decken. Dazu kommen etwa fünf Milliarden Dollar, die die palästinensischen Behörden brauchen.

Noch gibt es keine Übereinkunft über eine dauerhafte Waffenruhe zwischen Israel und den Palästinensern. Dennoch findet heute in Kairo eine Geberkonferenz für Gaza statt. Ist das sinnvoll?

Ich glaube schon. Fragen wie "Sollen wir überhaupt investieren, solange von Sicherheit keine Rede sein kann?" sind zwar berechtigt. Aber gerade jetzt braucht es mit Blick auf Gaza einen Paradigmenwechsel. Anderenfalls kehren wir zum Status quo zurück, der für die Menschen aufgrund der Blockade inakzeptabel war.

Wie sollte der Paradigmenwechsel konkret aussehen?

Das Treffen in Kairo darf nicht allein als Geberkonferenz für humanitäre Nothilfe betrachtet werden. Es muss darum gehen, den Wiederaufbau zu ermöglichen. Dazu gehört beispielsweise die Schaffung von Arbeitsplätzen. Vor dem Krieg waren 40 Prozent der Einwohner Gazas ohne Job. Bei Jugendlichen lag die Arbeitslosenquote sogar bei 65 Prozent. Diese Menschen brauchen dringend eine Perspektive. Dazu gehört vor allem das Ende der Blockade, also Bewegungsfreiheit, die Möglichkeit, Waren ein- und auszuführen.

Warum sollte es in Israels Interesse sein, die Blockade aufzuheben?

Wenn dies nicht geschieht, bleibt die Bevölkerung ohne Hoffnung – und es besteht die Gefahr, das Israel erneut ein erhebliches Sicherheitsproblem bekommt. Mir hat ein Unternehmer in Gaza vor dem Krieg gesagt: Ich bin ein guter Mensch, aber meine Kinder sind es nicht. Er selbst habe früher viel mit Israelis zusammengearbeitet, könne auch deren Sorgen nachvollziehen. Doch junge Menschen in Gaza würden in der Regel keinen einzigen Israeli kennen. Das ist keine Basis für eine gedeihliche Zukunft, für eine vernünftiges Miteinander. In Israel scheint man dieses grundlegende Problem inzwischen zu erkennen.

Mal angenommen, das erforderliche Geld für Gazas Wiederaufbau kommt zusammen. Wer garantiert, dass die Mittel in die Errichtung von Schulen oder Kliniken fließen und nicht in den Bau von Tunneln?

Ich kann nur für unsere Hilfsorganisation sprechen. Wir unterstützen schon seit Jahren Wiederaufbau-Projekte, zum Beispiel durch die Lieferung von Baumaterial. Und Israel wird bestätigen, dass dieses Baumaterial immer ausschließlich für unsere konkrete Arbeit genutzt wurde. Die Kontrollverfahren sind allerdings sehr zeitraubend. Israel, die Palästinenser und die Vereinten Nationen haben sich jedoch gerade auf ein neues Verfahren verständigt. Sollte diese Übereinkunft funktionieren, könnte wichtiges Baumaterial deutlich schneller geliefert werden.

In Gaza herrscht immer noch die Hamas. Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit den Islamisten?

Wir haben mehr als 12 000 Angestellte – schon um deren Sicherheit willen muss man sich eng mit der Hamas abstimmen. Vor allem in Kriegszeiten. Wir haben es aber inzwischen mit einer veränderten Lage zu tun. Die Regierung der nationalen Einheit von Fatah und Hamas nimmt immer mehr Einfluss auf Gaza.

Es heißt, die Hamas habe während des jüngsten Krieges mehrfach Einrichtungen von UNWRA für militärische Zwecke missbraucht.

In drei Schulen haben wir tatsächlich Waffen entdeckt. Wer sie dort gelagert hat, wissen wir nicht. Aber das spielt auch keine Rolle. Entscheidend ist, dass es passiert ist. Und deshalb haben wir das öffentlich gemacht und explizit verurteilt. Denn das war eine klare Verletzung des Völkerrechts.

Israel soll während des jüngsten Gazakrieges UNWRA-Einrichtungen getroffen haben. Stimmt das?

Es gab sieben Zwischenfälle, bei denen unsere Schulen getroffen wurden. An drei Orten wurden durch den Beschuss Menschen getötet. Das war für uns ein Schock. Denn wir hatten zuvor die israelischen Streitkräfte mehrfach darüber informiert, dass sich in den Schulen Flüchtlinge aufhalten. Allein in Rafah haben wir 33 Mal darauf hingewiesen, dass es sich um eine UNWRA-Schule handelt. Wir haben deshalb die Regierenden in Jerusalem aufgefordert, diese Vorfälle zu untersuchen. Mal sehen, zu welchen Ergebnissen man kommt.

Der palästinensische Publizist Rami Khouri nennt Gaza eine Mischung aus Armenküche, Gefängnis und Obdachlosenheim. Wer dort lebt, verliert jede Hoffnung. Was kann man dagegen tun?

Zunächst muss daran erinnert werden, dass die Menschen in Gaza in der Regel über eine gute Schulbildung verfügen. Das Problem ist nur: Wie geht es danach weiter? Ausbildungs- wie Arbeitsplätze sind Mangelware. Das wiegt umso schwerer, weil die jungen Menschen sehr wohl dazu bereit sind, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Sie sind engagiert, kreativ und motiviert. Und dieses Potenzial ließe sich nutzen – vorausgesetzt, die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen ändern sich.  Dann hätten die Menschen auch keinen Grund, ihre Heimat zu verlassen.

Sie kümmern sich auch um palästinensische Flüchtlinge außerhalb Gazas. Wie ist deren Lage?

Nehmen wir zum Beispiel das Westjordanland. Verglichen mit Gaza, könnte man meinen, herrsche dort so etwas wie Normalität. Das ist aber nicht so. Die Bewegungsfreiheit ist stark eingeschränkt, auch durch die 500 000 illegalen jüdischen Siedler.

Und wie sieht es in den arabischen Staaten aus?

In Syrien ist die Situation dramatisch. Früher hatten die etwa 540 000 Palästinenser ihr Leben mehr oder weniger im Griff. Dann kam der Krieg. Hunderttausende sind nun erneut auf der Flucht und müssen mit dem Notwendigsten versorgt werden. Auch im Libanon ist die Lage prekär. Die Palästinenser leben in Lagern und haben kein Zugang zum Arbeitsmarkt.

Jordanien lässt keine Palästinenser aus Syrien mehr ins Land.

Keine Frage, das ist ein Problem. Aber man muss auch anerkennen, dass sowohl der Libanon als auch Jordanien bereits Hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen haben. Da kann es kaum überraschen, dass beide Länder sagen: Wir können einfach nicht mehr. Das ist nachvollziehbar. Doch die Staatengemeinschaft muss alles daran setzen, dass der Zugang zu diesen Zufluchtsorten möglichst gewährleistet ist. Und dabei brauchen diese Länder unsere Unterstützung.

Vor gut 65 Jahren wurde das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge gegründet. Wird es diese einmalige Art der Unterstützung noch weitere 65 Jahre geben?

Hoffentlich nicht. Aber damit das gelingen kann, muss das politische Problem langfristig gelöst werden, also der Nahostkonflikt. Erst dann können die Palästinenser aus freien Stücken darüber entscheiden, wo sie leben wollen – dort, wo sie Zuflucht gefunden haben oder in einem eigenen unabhängigen Staat.

Wie weit sind die Palästinenser davon noch entfernt?

Derzeit wirkt es so, als läge ein eigener Staat in weiter Ferne. Aber gerade in einer derart schwierigen Situation brauchen wir ein echtes internationales Engagement. Erst dann öffnet sich der Raum für eine politische Lösung. Derzeit ist das besonders nötig. Denken Sie nur an den Vormarsch der Terrormiliz "Islamischer Staat".  Man muss Palästinenser und Israelis endlich an einen Tisch bringen. Denn das Ende des Nahostkonflikts wäre ein entscheidender Beitrag zu mehr Sicherheit in der Region.

Kontakt

Dr. Christian Böhme
Journalist

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