Der Tagesspiegel, 11. Januar 2015

„Freiheitsrechte stehen nicht zur Disposition“

Ronald S. Lauder, Präsident des Jüdischen Weltkongresses, über die Bedrohung durch islamistischen Terror, antisemitische Ausschreitungen und die Verteidigung der Grundwerte

Herr Lauder, nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo und der Geiselnahme in einem koscheren Supermarkt: Wie groß ist die Angst der Juden in Frankreich?

Die Angst wächst mit jedem Anschlag. Vor einigen Jahren wurde Ilan Halimi, ein junger Jude, brutal ermordet. Vor knapp drei Jahren fielen in Toulouse Schüler und ein Lehrer einem islamistischen Terroristen zum Opfer. Im Sommer gab es wüste Ausschreitungen in Paris und anderswo, zudem Angriffe auf Synagogen und jüdische Geschäfte. Und nun die Anschläge auf Charlie Hebdo und den jüdischen Laden in Paris. Es ist Zeit, dass das Blatt gewendet wird.

Inwiefern?
Es braucht die Anstrengungen aller, nicht nur der Politiker, sondern der ganzen Gesellschaft und jedes einzelnen Bürgers. Es kann doch nicht angehen, dass ausgerechnet in Frankreich, dem Land mit der drittgrößten jüdischen Gemeinschaft weltweit, dem Land, das seit 1789 westliche Grundwerte wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hochhält, dass ausgerechnet dort jüdische Bürger bedroht und gar ermordet werden. Es ist jetzt höchste Zeit, dass gehandelt wird, sonst sehe ich schwarz, was die Zukunft der Juden in Frankreich angeht.

Von wem fühlen sich Juden am meisten bedroht?

Die wichtigste – wenn auch nicht die einzige – Bedrohung sind momentan ganz klar fanatisierte, radikale Muslime. Natürlich handelt es sich um eine kleine Minderheit innerhalb der muslimischen Gemeinschaft in Frankreich. Und dennoch: Hier dürfen Staat und Gesellschaft keinen Fußbreit nachgeben und auch nicht nach vermeintlich rationalen Gründen für das Verhalten dieser Fanatiker suchen.

Das heißt?
Alle Demokraten müssen diesen Angriff auf die Grundwerte der Republik klar und eindeutig zurückweisen. Freiheitsrechte, für die auch Frankreichs Juden über die Jahrhunderte hinweg gekämpft haben, dürfen nicht zur Disposition gestellt werden, um eine kleine Minderheit von Islamisten zu besänftigen.

Geht Islamismus generell mit Judenfeindschaft einher?
Ich kenne jedenfalls keinen Islamisten, der nicht gegen die Juden und den Staat Israel hetzt. Aber wichtig ist zu erkennen, dass sich der islamische Fundamentalismus auch gegen die meisten Muslime selbst richtet, nicht nur gegen Juden, Christen oder Agnostiker. Deshalb ist es höchste Zeit, dass die gemäßigten Muslime in Frankreich und im Rest Europas endlich aufstehen und sich diesem Terror entgegenstellen.

Tun sie das nicht schon?
Es gibt einige prominente Beispiele von muslimischen Führern, die dies schon lange tun – aber sie brauchen Polizeischutz, aus Sorge, dass jemand aus den eigenen Reihen sie angreift. Das muss sich ändern.

Welche Rolle spielt der Nahostkonflikt bei der Radikalisierung von Muslimen?
Der Nahostkonflikt hat Auswirkungen auf viele Muslime in Europa. Aber stellen wir uns einmal einen Moment lang vor, Israelis und Palästinenser schlössen Frieden. Dann wäre weder das Terrorismusproblem gelöst noch der Syrienkonflikt, noch wäre das Abschlachten von Christen und Muslimen im Irak oder in Nigeria vorüber. Nein, dieser Hass, der sich da manifestiert, wird durch den Nahostkonflikt vielleicht angeheizt, aber er sitzt bei vielen bereits sehr tief drin und lässt sich nicht per Unterschrift unter einen Friedensvertrag beseitigen.

Müssen jüdische Einrichtungen in Frankreich künftig ähnlich umfassend geschützt werden wie beispielsweise in Deutschland?
Das wird sich wohl nicht vermeiden lassen - und ist ein Jammer. Aber auch das wird das Risiko neuer Anschläge nicht ganz verhindern. Die Redakteure von Charlie Hebdo standen unter Polizeischutz. Wichtiger noch ist es, die Terroristen aus dem Verkehr zu ziehen. Dazu braucht es Entschlossenheit auf Seiten des Staates und auch die Kooperation von Seiten der islamischen Gemeinschaft.

In den vergangenen Jahren gab es mehrfach Attentate auf Juden in Frankreich, viele Menschen fürchten sich. 7000 haben 2014 das Land verlassen. Ist dieser Schritt nachvollziehbar?
Nicht alle sind wegen des aufkommenden Antisemitismus weggegangen.

Sondern?
Es gab auch wirtschaftliche Gründe. Dennoch: Wenn die Juden dergestalt mit den Füßen abstimmen und weggehen, dann muss sich Frankreich fragen lassen, was es dagegen zu unternehmen gedenkt. Jede derartige Entscheidung wird individuell getroffen. Aber die Zahlen sprechen einen eindeutige Sprache: Wenn das so weitergeht, dann wird das Land bald nicht mehr die drittgrößte jüdischen Gemeinde weltweit haben. Und das wäre ein Armutszeugnis für eine große Nation wie Frankreich.

Ronald S. Lauder (70) ist seit 2007 Präsident des Jüdischen Weltkongresses (WJC). Er entstammt der Unternehmerfamilie Lauder und finanziert mit einer nach ihm benannten Stiftung jüdische Bildungseinrichtungen in zahlreichen Ländern.

Kontakt

Dr. Christian Böhme
Journalist

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