Der Tagesspiegel, 15. März 2015

Gäste in Not

Fast 1,7 Millionen Syrer hat die Türkei bislang aufgenommen. Sie leben in Camps und in den Städten. Ein Besuch

Hätte sie doch eine Waffe. Und genügend Kraft. Dann würde sich Fatma (Name von der Redaktion geändert) sofort auf den Weg machen. Richtung Syrien, Richtung Heimat. Um Baschar al Assad zu töten, den skrupellosen Machthaber. „Er hat so viel Leid über meine Familie gebracht, er hat uns alles genommen“, sagt die junge Frau. Ihre Stimme bebt vor Zorn. Die vom weißen Kopftuch umgebenen Augen füllen sich mit Tränen. Denn Fatma weiß, dass dies nichts als Wunschdenken ist. Sie hat weder die Stärke noch die Möglichkeit, sich nach Damaskus aufzumachen. Die Syrerin wäre schon froh, wenn die Familie einigermaßen über die Runden käme.

Und das ist schwierig genug. Seit sie vor gut zwei Jahren das Zuhause in Aleppo verlassen musste, besteht das Leben aus Mangel, Enttäuschung und Verzweiflung. Der Alltag ist so trist wie die Zwei-Zimmer-Wohnung in einer kleinen Straße der südtürkischen Stadt Gaziantep. Ein blau-braun gemusterter Teppich auf dem Boden, dazu ein paar Kissen und einige Matratzen. Hinter der ersten Zimmertür ein kleiner brauner Ofen. Von den kahlen Wänden blättert die Farbe ab. 20 karge Quadratmeter.

Hier ist Fatma nach der Flucht vor dem Krieg mit neun Verwandten untergekommen. 400 türkische Lira pro Monat kostet die Bleibe, umgerechnet etwa 130 Euro. Ein Vermögen für eine Großfamilie, die kaum mehr besitzt als die Hoffnung auf bessere Zeiten. Denn die Gegenwart ist so mühselig wie trostlos. Hinzu kommt noch der Schrecken der Vergangenheit.Die Erinnerung an den Krieg peinigt Fatma Tag für Tag. Das Dröhnen der Kampfflugzeuge. Die nächtlichen Angriffe. Die zahllosen Bomben. Die zerstörten Häuser. Die vielen Toten. „Es ist ein Albtraum, der kein Ende nimmt.“

Noch heute schreckt sie nachts hoch. Sieht wieder und wieder, wie die Flugzeuge ihre tödliche Fracht abwerfen. Erinnert sich daran, wie sie erst im Auto, dann zu Fuß flohen. Und sich schließlich krauchend unter dem Stacheldraht hindurchzwängten, um die Grenze zu überqueren.Fatmas Schicksal ähnelt dem vieler Syrer. Mindestens sieben Millionen Menschen irren im Land umher, fast vier Millionen haben Zuflucht in den Nachbarstaaten gefunden. Neben dem Libanon und Jordanien trägt die Türkei die Hauptlast. 1,7 Millionen Frauen, Kinder und Männer hat Ankara aufgenommen.

Und das Land, das die Flüchtlinge als „Gäste“ willkommen heißt, lässt sich die Nothilfe einiges kosten. Fünf Milliarden Dollar hat die Regierung nach eigenen Angaben bislang zur Verfügung gestellt. Das Geld wird zum Beispiel gebraucht, um die 25 Lager zu finanzieren. Mehr als 250 000 Schutzsuchende werden in den Camps entlang der 900 Kilometer langen Grenze versorgt. Doch die allermeisten Syrer sind in Dörfern und Städten untergekommen. Um sie dort zu unterstützen, braucht es ebenfalls sehr viel Geld. Zum Beispiel für Suppenküchen und kostenfreie medizinische Betreuung.

Fatmas Familie ist auf beides angewiesen. „Meinem Mann geht es gesundheitlich sehr schlecht. Er benötigt ärztliche Hilfe. Und ohne die Essensausgabe mittags gäbe es eine Mahlzeit weniger am Tag.“ Also nimmt sie oder die Mutter das Anstehen in der langen Schlange, das Gedrängel in Kauf. Sechs Mal in der Woche.Doch das alles ändert wenig am beschwerlichen Alltag. Seit Fatmas Mann krank geworden ist, fehlt sein Verdienst in der Haushaltskasse. 250 Lira, umgerechnet etwa 80 Euro, hat er pro Woche als Tagelöhner bekommen. Nicht gerade viel, aber immerhin etwas. Nun muss die Familie ohne das Geld auskommen, auf das sie eigentlich angewiesen ist.

In einem Lager leben möchte Fatma dennoch nicht. Zu gefährlich gerade für die Mädchen, sagt sie. Dabei wirkt das Leben in den Flüchtlingscamps im Vergleich zu dem in den Städten fast komfortabel. Am Rande der südtürkischen Stadt Kahramanmaras gibt es seit September 2012 eine derartige Notunterkunft. Gut 17 000 Menschen leben hier in 3300 weißen Zelten, die exakt nebeneinander stehen.

Eine kleine Stadt, die rasch aus dem Boden gestampft wurde und inzwischen über eine gut funktionierende Infrastruktur verfügt. So bekommen fast 6000 Flüchtlingskinder in zwei Schichten Schulunterricht. Es gibt ein Feldlazarett. Und entlang des gefegten Hauptweges, Klein-Syrien genannt, bieten Händler ihre Waren an. Wer Bargeld hat, kann sogar Hochzeitskleider kaufen.

Solchen Luxus kann sich Mohamed Sued nicht leisten. Der 33-Jährige mit dem akkurat gestutzten Bart lebt seit zweieinhalb Jahren mit seiner Frau, den Großeltern und drei Kindern in einem der Zelte. Ein paar Quadratmeter groß ist die Unterkunft, aber die Katastrophenschutzbehörde Afad hat sie mit einer Kochgelegenheit, Heizkörper und einem Kühlschrank ausgestattet. Die Familie aus dem syrischen Idlib musste dafür nichts zahlen. Auch der Strom ist kostenlos. „Das hilft uns. Denn die wenigen Ersparnisse sind aufgebraucht.“

Dennoch müssen weder die Sueds noch die anderen Campbewohner hungern. Sie können vielmehr mithilfe der UN und der Regierung in Ankara selbst bestimmen, was sie essen. Das war anfangs anders. Als das Lager errichtet wurde, wurden drei Mahlzeiten am Tag ausgegeben. Doch der Aufwand war groß, der Zuspruch gering.

Deshalb können sich die Bedürftigen inzwischen eigenständig mit Lebensmitteln versorgen, also allein bestimmen, was auf den Teller kommt.Dabei setzt das UN-Welternährungsprogramm (WFP) auf moderne Technik. Alle registrierten Flüchtlinge erhalten eine E-Card. Die sieht aus wie eine Kreditkarte und wird mit einer bestimmten Geldsumme aufgeladen. Das Guthaben beträgt umgerechnet knapp 30 Euro pro Monat und Familienmitglied. Die Kosten dafür tragen das WFP und die Türkei.

Mit der Karte können die Campbewohner bargeldlos einkaufen. Dafür wurden auf dem Gelände zwei große Supermärkte errichtet, die von lokalen Händlern betrieben werden. Ihre Waren müssen sie unter Marktwert anbieten, Qualität und Auswahl werden kontrolliert. Das Konzept kommt bei den Syrern an. Auch die Wirtschaft in der Region profitiert – weil die Geschäftsleute neue Kunden gewinnen und die Einnahmen im Land bleiben.

Nur: Dem Welternährungsprogramm fehlt Geld, um in der Türkei (und anderswo) die Hilfe im gewünschten Umfang aufrechtzuerhalten. Noch Mitte 2014 erreichten die UN mit den Scheckkarten 220 000 Menschen, im Februar waren es 70 000 weniger. Finanzierungslücken in Millionenhöhe – verursacht durch fehlende Spenden – zwangen die Organisation, sich aus neun Lagern zurückzuziehen. Geplant war zudem, das E-Card-System außerhalb der Camps einzuführen. Im April soll es so weit sein. Aber statt 100 000 kommen kaum mehr als 30 000 Notleidende in den Genuss der Gutscheine.

Die Türkei ist also als Aufnahmeland finanziell gefordert. Fast drei Millionen Dollar zahlt der türkische Steuerzahler zum Beispiel jeden Monat allein für den Unterhalt des Lagers Kahramanmaras. Und Flüchtlinge wie Mohamed Sued sind ihnen dafür dankbar. „Nachdem Assads Truppen unser Haus zerstört hatten, war klar: Wir wollen in die Türkei. Denn es hieß, dort werde man gut behandelt. Und das stimmt“, sagt der hagere Mann.

Für die Türken, das wird in vielen Gesprächen deutlich, ist die Hilfe eine Selbstverständlichkeit. „Wir haben es mit einer humanitären Katastrophe zu tun“, sagt Ferhat Kurtoglu, Vizegouverneur der Provinz Kahramanmaras. „Wir sind in der Pflicht, alles zu tun, was möglich ist, und gehen davon aus, dass die Krise noch lange anhält.“ Aber gerade weil der Konflikt so bald nicht enden werde, sollte Europa seinem Land mehr als bisher helfen. Die Last, die man stemme, sei riesig. Das werde zu wenig von der Staatengemeinschaft gewürdigt.

Bei Menschen wie Fatma steht die Türkei allerdings hoch im Kurs. An der Sehnsucht nach der alten Heimat ändert das jedoch kaum etwas. Wäre der Krieg zu Ende, Fatma würde sofort nach Hause zurückkehren. In ein Land, das zu weiten Teilen in Trümmern liegt. Sie sagt, ein Zelt als Unterkunft reiche ihr, um noch einmal von vorne anzufangen.

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Dr. Christian Böhme
Journalist

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