Der Tagesspiegel, 29. September 2015

"Man sich nirgends sicher fühlen"

Andy Baker von der Hilfsorganisation Oxfam über die Lage in Syrien, hoffnungslose Flüchtlinge in den Nachbarstaaten und die Notwendigkeit eines Waffenembargos

Herr Baker, Syriens Nachbarstaaten haben bereits vier Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Wie ist die Lage in Ländern wie dem Libanon oder Jordanien?
In Jordanien lebt nur ein kleiner Teil der 650.000 Schutzsuchenden in regulären Camps. Die meisten Menschen sind in Dörfern und Gemeinden untergekommen. Und deren Leben ist sehr beschwerlich. Sie hausen oft in ärmlichen Unterkünften. Das gilt vor allem für den Libanon.

In Jordanien sieht es besser aus?
In einem Camp wie Zaatari mit seinen mehr als 80.000 Bewohnern gibt es zumindest eine provisorische Einkaufsstraße, Schulen, Spielplätze und Kliniken. Oxfam kümmert sich zum Beispiel um die Wasserversorgung. Und die Leute leben inzwischen oft in Wohnwagen, nicht mehr in Zelten. Die Infrastruktur macht vieles einfacher. Dennoch: Auch dort ist die Situation äußerst frustrierend.

Es heißt, viele Flüchtlinge wollten sich trotz aller Gefahren nach Europa aufmachen. Warum?
Das hat sicherlich verschiedene Gründe. Als die Flüchtlinge in Jordanien oder im Libanon ankamen, glaubten sie, ihr erzwungener Aufenthalt würde nur einige Monate dauern. Daraus sind Jahre geworden. Und an eine baldige Rückkehr in ihre Heimat ist nicht zu denken. Das frustriert die Menschen. Hinzu kommt, dass es fast unmöglich ist, einen legalen Job zu finden. Viele Kinder können nicht zur Schule gehen. Auch die Unterstützung durch Hilfsorganisationen fällt von Monat zu Monat geringer aus, weil das Geld fehlt.

Die Hoffnungslosigkeit wird größer?
Ja, diesen Eindruck habe ich. Das liegt vor allem daran, dass die Menschen nicht mehr daran glauben, dass sich etwas zum Besseren wendet. Es gibt keine Aussicht auf Frieden. Deshalb suchen die Menschen nach Auswegen, sehnen sich nach einem normalen Leben. Und Europa spielt dabei eine große Rolle.

Heißt das, die Menschen werden weiter zu Tausenden nach Europa drängen?
Das weiß ich nicht. Sicherlich, viele Flüchtlinge sind enttäuscht über ihre derzeitige Lage und denken über Alternativen nach. Aber so großzügig gerade Staaten wie Deutschland bei der Aufnahme bislang auch waren: Die Asylsuchenden müssen damit rechnen, dass sie nicht auf Dauer derart freundlich begrüßt werden.

Was kann getan werden, um Aufnahmeländern wie dem Libanon, Jordanien oder der Türkei zu helfen?
Klar ist: Diese Staaten tragen mit Millionen Flüchtlingen die Hauptlast. Sie brauchen also deutlich mehr finanzielle Unterstützung. Aber es wäre gleichfalls sehr nützlich, wenn sich Europa im Rahmen von Aufnahmeprogrammen um die Bedürftigsten kümmern würde.

Ansätze dazu gibt es bereits.
Ja, aber da ist noch viel Luft nach oben.

Viele der Flüchtlinge, die gerade Europas Grenzen überwinden wollen, sollen direkt aus Syrien gekommen sein. Wie sieht es im Bürgerkriegsland aus?
Ich kann nur über die Hauptstadt Damaskus berichten. Dort herrscht so etwas wie Normalität. Restaurants und Geschäfte sind geöffnet, man sitzt in Cafes, der Verkehr wird geregelt. Aber die Front ist nicht weit entfernt. Schüsse und Explosionen sind immer wieder zu hören.

Und im großen Rest des Landes?
Ich höre, dass es in einigen Gegenden relativ ruhig sein soll. Doch woanders wird heftig gekämpft. Das große Problem ist: Man kann sich nirgends sicher fühlen. Der Frontverlauf ändert sich ständig. Auch unsere Arbeit ist davon betroffen.

Inwiefern?
Wir haben uns zum Beispiel mit Genehmigung der syrischen Regierung um die Wasserversorgung von Idlib gekümmert. Doch die Stadt wurde vor kurzem von Aufständischen erobert. Wir wissen noch nicht, ob wir unsere Arbeit fortsetzen können. Für uns zählt allerdings in erster Linie, ob die Menschen vor Ort Wasser haben. Und das haben sie jetzt, unabhängig davon, wer das Gebiet gerade beherrscht.

Hat Oxfam Zugang zu Gebieten, die vom "Islamischen Staat" kontrolliert werden?
Nein. Aber wir hören, dass die Dschihadisten-Miliz tatsächlich versucht, so etwas ähnliches wie staatliche Strukturen aufzubauen. Es soll zum Beispiel ein Gesundheitswesen und Schulen geben. Aber das ändert selbstverständlich nichts am terroristischen, fanatischen Charakter des Regimes.

Ist es vorstellbar, den Syrien-Konflikt von außen zu lösen?
Er kann gar nicht anders beendet werden. Der Konflikt ist längst einer mit vielen Beteiligten. Die Golfstaaten, der Iran, Russland, die USA, die Türkei - alle verfolgen unterschiedliche Interessen. Entscheidend ist allerdings, dass als erstes die Kämpfe beendet werden. Und das geht nur, wenn endlich ein komplettes Waffenembargo verhängt wird. Der Krieg hält nur an, weil Kräfte von außen die verschiedenen Terror- und Rebellengruppen mit Waffen versorgen. Damit muss Schluss sein. Erst dann kann es Frieden geben.

Kontakt

Dr. Christian Böhme
Journalist

Telefon: +49(0)176.32 73 83 34

kontakt@christianboehme.info