Der Tagesspiegel, 19. November 2015

"Wir müssen den IS auch intellektuell besiegen"

Ägyptens Großmufti über kriminelle Interpretationen des Islam, feige Gewalt und den Kampf gegen den "IslamischernStaat"

Eminenz, wie reagiert die islamische Welt auf die Terroranschläge in Paris?
Alle Muslime sind schockiert – wie jeder vernünftige Mensch. Wir trauern mit den Franzosen. Diese Angriffe waren entsetzlich, schändlich, sinnlos und feige. Sie galten der gesamten Menschheit. Der Islam steht im völligen Gegensatz zum Terror.

Im Westen vermissen viele eine klare Verurteilung des Terrors und Distanzierung vom militanten Islamismus.
Muslimische Autoritäten verurteilen bereits seit Jahrzehnten jede Art von Terror aufs Schärfste! Dazu gehört, dass wir ganz klar aufzeigen, wie sehr die Extremisten die Religion missbrauchen, um ihre feige Gewalt zu rechtfertigen. Nur werden unsere unablässigen Warnungen und Aufrufe leider in der Welt kaum zur Kenntnis genommen. Man schaut nicht hin und hört nicht zu.

Worauf gründet ihr Eindruck?
Verschiedene islamische Autoritäten haben in der Vergangenheit auf zahlreichen internationalen Konferenzen und Treffen deutlich Stellung gegen den gewalttätigen Extremismus bezogen – doch unsere Stimmen wurden nicht gehört. Dabei gab und gibt es viele Initiativen, die wahren Lehren des Islam repräsentieren.

Der „Islamische Staat“ mordet im Namen des Islam. Was können muslimische Geistliche wie Sie dagegen unternehmen?
Zunächst muss ich nochmals betonen: Unsere religiösen Institutionen haben immer wieder die Brutalität und Unmenschlichkeit der Terroristen, dieser unislamischen radikalen Gruppen verdammt. Als Großmufti von Ägypten stehe ich im intellektuellen Kampf an vorderster Front.

Das heißt?
Meine Aufgabe ist es, die gefährliche Ideologie der Extremisten zu entlarven und die echten Werte des Islam zu lehren. Dazu gehört zum Beispiel der Respekt gegenüber Menschen. Um das deutlich zu machen, ist am ehrwürdigen Dar-al-Ifta-Institut in Ägypten vor drei Jahren eine Art Überwachungseinheit etabliert. Dort werden die radikalen Ideologien beobachtet und deren Trugschlüsse widerlegt. Unser Ziel ist es, auf die Gefahren des Extremismus aufmerksam zu machen und möglichst Abhilfe zu schaffen. Und klarzustellen, dass die Antwort auf Hass nicht Hass sein kann. Deshalb schicken wir unseren Gelehrte in viele Länder.

Mit welchem Auftrag?

Die Extremisten haben in den Köpfen und Herzen der Menschen Zweifel gesät. Diese Zweifel wollen wir beseitigen.

Könnte eine Fatwa, ein Rechtsgutachten, helfen, dem „Islamischen Staat“ ideologisch etwas entgegenzusetzen?
Wir haben schon sehr viele Fatwas veröffentlicht, um das radikale Gedankengut zu bekämpfen. Und sie stellen in aller Deutlichkeit klar, dass Terrorismus das Ergebnis einer Kultur des Hasses ist.

Warum findet der IS dennoch und gerade bei Jugendlichen so viel Zuspruch?
Dafür gibt es sicherlich vielfältige Gründe. Auf dem Gebiet des Glaubens sind die Terroristen offenkundig dazu in der Lage, die jungen Menschen einer Gehirnwäsche zu unterziehen – indem sie religiöse Texte manipulieren, um Gewalt zu rechtfertigen. Man darf dabei nicht vergessen, dass keiner dieser Extremisten in anerkannten Lehrstätten ausgebildet wurde. Sie predigen ein Zerrbild des Islam. Ihr Ziel ist ausschließlich, Verwüstung und Chaos in die Welt zu tragen. Allerdings spielt bei jungen Leuten wohl auch Frust und Enttäuschung über die Lebensumstände eine Rolle, wenn sie sich den Terroristen anschließen.

Die Dschihadisten sehen in allen, die ihnen nicht folgen wollen, Ungläubige und vom „wahren“ Glauben Abgefallene. Was entgegnen Sie als religiöse Institution?

Zum Islam gehört der Grundsatz: Es gibt keinen Zwang in der Religion. Das heißt, diese Kriminellen interpretieren die traditionelle islamische Lehre falsch, verzerren sie. Ihnen geht es nur darum, ihren Machthunger zu stillen. Denn unsere religiösen Texte verbieten eindeutig, Menschen zu ermorden. Vielmehr wird dort immer wieder die Heiligkeit des menschlichen Lebens gepriesen.

Wie kann der IS gestoppt werden?
Als Erstes sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass die Extremisten allein militärisch nicht zu besiegen sind. Wir müssen sie auch an der ideologischen Front niederringen. Dabei kommt den sozialen Medien und dem Internet große Bedeutung zu. Und die Attacken in Paris haben uns vor Augen geführt, dass kein Land vor Anschlägen gefeit ist. Muslime und Nicht-Muslime sitzen also in einem Boot. Daher muss die ganze Welt vereint für Frieden, Solidarität und Wissen eintreten. Vor allem Bildung und Ausbildung kann Jugendliche vor extremistischen Ideologien schützen. Wir alle müssen unsere Hausaufgaben machen, um dieser Bedrohung Herr zu werden. Und diese Lasten müssen von uns allen getragen werden.

Kontakt

Dr. Christian Böhme
Journalist

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