Der Tagesspiegel, 2. August 2016

Der ignorierte Völkermord

Die jesidische Filmemacherin Düzen Tekkal und Deidre Berger vom American Jewish Committee über Diskriminierung, Ignoranz und die Gefahren des Islamismus

Frau Berger, Frau Tekkal, wie haben Sie beide – eine Jüdin und eine Jesidin – sich kennengelernt?
Berger: Bei einer Veranstaltung der CDU-Bundestagsfraktion über Antisemitismus. Und dort habe ich sofort gemerkt, dass wir viel gemeinsam haben. Zum Beispiel, dass unsere Völker in der Vergangenheit immer wieder marginalisiert wurden. Und als Sündenböcke herhalten mussten für all das, was in der Welt schief läuft.
Tekkal: Die größte Gemeinsamkeit zwischen unseren Völkern besteht wohl in der Erfahrung, dass wir als Menschen entmenschlicht worden sind. Das ist die Vorstufe zum Völkermord. Das wissen Juden ohnehin. Denn sie haben den Holocaust erlitten – ein singuläres Verbrechen. Aber auch Jesiden sind betroffen, mitten im 21. Jahrhundert. Wir reden von einem Genozid. Wir reden davon, dass Frauen verkauft und versklavt werden. Dass sie vergewaltigt werden. Dass Kinder abgeschlachtet werden.

Vom „Islamischen Staat“.
Tekkal: Richtig. Über Jahrhunderte tradierte Feindbilder haben dazu entscheidend beigetragen: Die Jesiden machen unseren Islam schlecht. Die Frauen sind Teufelsbräute, tragen keine Kopftücher und Ähnliches. Derartige Vorurteile sind in der muslimischen Gesellschaft weit verbreitet, selbst bei Gemäßigten. Und die Dschihadisten haben diese Ressentiments auf perfide Weise genutzt. Deshalb fiel es den Islamisten so leicht, die Jesiden anzugreifen.

Aus Nachbarn sind Mörder geworden?

Tekkal: Ja. Und genau das können Jesiden nicht verzeihen. Unter den Tätern waren eben auch Menschen, mit denen wir lange Zeit Tür an Tür gelebt haben. Muslimische Nachbarn waren es, die Jesiden dem IS ausgeliefert haben.
Berger: Nachbarn, die zu Mördern werden – das kennen wir Juden leider aus der deutschen Geschichte. Das Schicksal der Jesiden, der Völkermord vor zwei Jahren im Nordirak, hat deshalb ein sehr großes Echo in der jüdischen Gemeinschaft gefunden.

Aber den Genozid an den Jesiden hat die deutsche Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen, oder?
Berger: Leider. Daher finden wir es als Juden und jüdische Organisationen so wichtig, die Mehrheitsgesellschaft darauf aufmerksam zu machen, was dort geschieht. Wir können unsere politische Stimme erheben und uns für die Jesiden einsetzen. Das ist selbstverständlich. Schließlich ist das Vorgehen des IS ein Angriff auf die Menschlichkeit. Dass die Leute davon kaum Notiz nehmen, verstört uns.

Bisher hat Deutschland Jesiden allenfalls wegen Ehrenmorden wahrgenommen. Werden die Jesiden die Katastrophe nutzen, um ihre Gemeinschaft zu modernisieren?
Tekkal: Das müssen wir. Dazu gehört, dass wir uns nicht auf eine Opferrolle reduzieren lassen dürfen. Jesiden wollen keine Opfer mehr sein.

Wie wollen Sie das bewerkstelligen?
Tekkal: Wir müssen Unabhängigkeit einfordern. Zumindest brauchen Jesiden in ihren irakischen Siedlungsgebieten Schutz, den die Staatengemeinschaft garantiert. Dazu gehört auch eine mögliche Bewaffnung. Denn nach den Massakern vor zwei Jahren in Sindschar vertraut keiner mehr den irakischen Behörden oder den Kurden. Wir sind anders als Juden, die ihre Tora haben, auf die Region Sindschar angewiesen. Dort haben die Jesiden ihr spirituelles Zentrum. Genau das wollte der IS zerstören.

Wie können Sie die deutsche Gesellschaft für das Schicksal der Jesiden sensibilisieren?
Tekkal: Wir haben mit dem IS einen gemeinsamen Gegner, der einen Krieg gegen unsere Werte, gegen Säkularisierung führt. Dass dies vorwiegend 3500 Kilometer entfernt passiert, heißt keinesfalls, dass das unsere innere Sicherheit nicht bedroht. Vor zwei Jahren hätten wir bereits Kämpfer gegen den IS unterstützen müssen. Es war fahrlässig zu meinen, dass uns das nichts angeht.

Sie werfen der Politik Untätigkeit vor?

Tekkal: Ich werfe den Volksparteien auch vor, dass sie die Ängste nicht ernst genommen haben. Es gab ja die Befürchtung, dass mit den Flüchtlingen radikalisierte Islamisten nach Deutschland kommen könnten. Das hat sich bewahrheitet. Selbst die geretteten Jesidinnen, die jetzt hier leben, haben keine Garantie dafür, ihren Peinigern nicht wieder zu begegnen. Dass nun auch mein Deutschland bedroht ist, besorgt mich sehr. Wo soll ich denn sonst noch hin?

Was hilft gegen die Angst?
Tekkal: Vernunft, Anständigkeit und Differenzierung sind vonnöten. Die Welt ist nicht schwarz oder weiß. Für uns Jesiden wäre es ein Leichtes, den Islam zu dämonisieren. Aber es bringt nichts. Damit spielen wir nur den Radikalen in die Hände. Wir müssen aber den säkularen Kräften im Islam abfordern, dass sie sich von der Gewalt distanzieren, dass sie mithelfen, ihre Religion zu modernisieren. Wir brauchen zum Beispiel eine quellenkritische Einordnung des Korans. Denn diejenigen, die sich dem IS anschließen, glauben ja, gottgefällig zu handeln.
Berger: Es braucht in der deutschen Öffentlichkeit eine größere Sensibilität für die Gefahren des Salafismus und andere Formen des Extremismus. Das ist sicherlich nicht der Islam an sich. Aber man darf die Ängste nicht ignorieren, vor allem jetzt, nachdem Terroristen diese Gesellschaft erstmals angegriffen haben. Eine Million Flüchtlinge sind in kurzer Zeit nach Deutschland gekommen. Darunter viele junge Männer, die in einer ganz anderen Welt groß geworden sind. Und es gibt noch eine andere Gefahr: Angriffe auf Flüchtlingsheime. Mehr als 1000 solcher Attacken gab es bisher - und kaum jemand ist dafür zur Verantwortung gezogen worden. Das geht nicht. Wir müssen ein Bewusstsein für den Islamismus entwickeln, aber ebenfalls für die Hassverbrechen gegen Minderheiten.

Lässt sich aus der Nachkriegsgeschichte etwas in Sachen Integration lernen?
Berger: Die Gesellschaft nach dem Krieg war nach Jahren der nationalsozialistischen Indoktrination antisemitisch eingestellt. Aber aus der Zeit lässt sich dennoch lernen, wie man demokratische Werte in eine Gesellschaft einbringen kann. Nach den Integrations- und Sprachkursen gibt es heute kaum noch Angebote der politischen Bildung für die Zugewanderten. Das ist ein Fehler.

Mit der politischen Bildung ist es wohl nicht getan, wenn die Flüchtlinge seit einem Jahr in Tempelhof in einer großen Halle ohne Privatsphäre darauf warten, ihren Asylantrag abgeben zu dürfen.
Tekkal: Wir haben es den Hasspredigern wirklich ziemlich leicht gemacht. Wenn es Menschen zum IS zieht, ist das eine Bankrotterklärung unserer Gesellschaft. Wir können nicht auf der einen Seite sagen: Das darfst Du nicht. Und auf der anderen Seite keine Angebote machen.

Lassen sich diese Versäumnisse denn noch aufholen?
Tekkal: Wir brauchen Belohnung - nach Anstrengung. Es ist falsch, die „soziale Hängematte“ auszubreiten, wenn die Menschen hier ankommen und sie erst mal alles kriegen ohne Gegenleistung. Es wäre wichtig, dass Flüchtlinge dabei helfen, neue Flüchtlinge zu integrieren. Und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass man in diesem Land etwas tun muss, wenn man etwas erreichen will. Ich treffe oft auf Jugendliche, die sagen: Nur weil ich Ahmed heiße, ist nichts aus mir geworden. Denen sage ich: Nein. Weil Du faul bist, weil Du morgens nicht aufstehst. Wir müssen diese Jungs härter rannehmen. Auch das Fordern hat mit Respekt zu tun. Es geht dabei nicht nur um Sanktionen. Es geht darum, die Menschen ernst zu nehmen.

Ist die Demokratie in Deutschland überhaupt ausreichend wehrhaft?
Tekkal: Das ist sie nicht. Was einer falsch verstandenen Toleranz geschuldet ist. Parallelgesellschaften wurden so befördert. Das merken wir derzeit in Teilen der türkischen Gemeinschaft. Menschen, die sich vor bald 50 Jahren auf den Weg gemacht haben und nie hier angekommen sind. Das finde ich schlimm. Strukturen wie die Islamverbände, die im Gewand der Integration daherkommen, jedoch konservative Indoktrinierung betreiben, sollten nicht gefördert werden. Das blockiert selbstständiges Denken. Auch die säkularen Muslime, die sich gegen derartige Tendenzen wehren, werden von uns im Stich gelassen. Dass sie unter Polizeischutz stehen, kann doch nicht unser Verständnis von Demokratie sein! In diesen Tagen möchte ich allerdings auch kein Moslem sein. Die Stigmatisierung trifft am Ende alle. Die vier Millionen Muslime müssen deshalb an der Demokratie mitarbeiten.

Dazu muss diese Demokratie aber das Signal aussenden, dass dies erwünscht ist.
Tekkal: Das stimmt. Da sind beide gefragt. Der deutsche Nenner ist eben das einzige, was uns alle verbindet.
Berger: Da kann man einiges aus den USA und Israel lernen. Schon die erste Generation konnte sich mit ihrem neuen Staat identifizieren. Das brauchen wir auch. Sonst fühlt man sich nicht als Teil der Demokratie. Es fehlt aber das Verständnis unter den Einwanderern, dass man dieses neue Land auch annehmen muss.

Das heißt?

Berger: Zwischen der Forderung nach einer vollständigen Assimilation und Parallelgesellschaften gibt es eben noch etwas anderes. Es geht darum, Teil der deutschen Gesellschaft zu sein und dennoch eigene Wurzeln zu haben. Das ist möglich. Wir brauchen eine Kultur des Respekts. Es gibt Werte, die sind nicht verhandelbar. Darüber muss Einigkeit herrschen. Über alles Weitere kann man diskutieren.

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Dr. Christian Böhme
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