Der Tagesspiegel, 25. Mai 2017

„Es herrschen Hunger und Krankheit"

Tankred Stöbe von Ärzte ohne Grenzen über die Not in libyschen Flüchtlingslagern, kriminelle Banden und Europas Versagen

Herr Stöbe, in Libyen werden Flüchtlinge willkürlich gefangen gehalten. Sie waren vor Kurzem in einigen dieser Internierungslager. Was haben Sie gesehen?
Die Zustände sind katastrophal. Zum Beispiel standen in den Baderäumen eines Lagers Urin und Kot knöcheltief. Es gab keine Duschen, keine Latrinen, kein sauberes Trinkwasser. Die Menschen, die dort festgehalten werden, haben schlimme Hautinfektionen und Atemwegserkrankungen. Besonders erschreckend war für mich die Verzweiflung.

Inwiefern?
Die Flüchtlinge haben mich angefleht, ich möge ihnen helfen, in ihre Heimat zurückzukehren. Die Gefangenen wissen einfach nicht, wann und ob sie jemals die Lager wieder verlassen können. Und sie sind völlig verängstigt. Viele leiden unter sogenannter extremer Wachsamkeit.

Das heißt?
Sie leben in einem Zustand, in dem sie wegen möglicher Gefahren in ihrer Umgebung permanent auf der Hut und extrem schreckhaft sind. Panikattacken, Schlafstörungen und Depressionen sind die Folgen.

Worunter leiden die Eingesperrten am meisten?
Die sanitären Bedingungen und die medizinische Versorgung sind völlig inakzeptabel. Es gibt auch nicht genug zu essen für die Menschen. Offenbar kommt es immer wieder vor, dass sie tagelang keine Lebensmittel erhalten. Selbst Erwachsene hungern. Und das ist selten und kommt nur bei außergewöhnlichen Krisen vor. Mangelernährung tritt eigentlich zunächst bei Kindern auf. Und nicht zu vergessen: Diese Gefangenen haben keinerlei Rechte. Sie werden geschlagen, gefoltert, müssen Sklavenarbeit verrichten. Frauen werden vergewaltigt und zur Prostitution gezwungen. Wir in Europa können uns gar nicht vorstellen, wie es in diesen libyschen Lagern zugeht.

Wer ist für die katastrophalen Zustände verantwortlich?
Wir unterscheiden grob zwei verschiedene Arten von Lagern. Da sind zum einen jene, die nominell unter Kontrolle des „Direktorats zur Bekämpfung illegaler Migration“ stehen. Oft betreiben aber de facto Sicherheitsfirmen diese Gefangenenlager. Dort werden keine der humanitären Standards erfüllt, die normalerweise als grundlegend gelten. Das sind Massenunterkünfte, in denen hunderte Menschen auf engstem Raum hausen. Zum anderen gibt es hermetisch abgeriegelte Lager, in denen kriminelle Banden und Schlepper das Sagen haben.

Die EU will im Mittelmeer aufgegriffene Bootsflüchtlinge gerne nach Libyen zurückbringen. Was halten Sie davon?
Gar nichts. Das ist schlichtweg zynisch und unmenschlich. Eigentlich müssten wir Europäer die Menschen aus Libyen herausholen! Sie verlassen ihre Heimat und suchen entweder in Libyen Sicherheit oder wollen gleich nach Europa weiter. Doch das nordafrikanische Land existiert als Staat gar nicht mehr. Geflüchtete gelten in diesem rechtsfreien Raum als vogelfrei. Und nach Hause zurückkehren können sie auch nicht. Oft sind ihnen die Papiere abgenommen worden. Geld haben sie ebenfalls nicht mehr. Die Menschen sehen daher ihre einzige Chance darin, den lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer zu wählen.

Libyen ist ein extrem militarisiertes, gefährliches Land. Wie kann Ihre Organisation unter diesen Bedingungen überhaupt helfen?
Wir sprechen wie immer mit allen Konfliktparteien. Die Sicherheitslage im Land ist allerdings sehr unterschiedlich. Und oft wird uns der Zugang zu den Bedürftigen in den Lagern verwehrt. Libyen ist ein gescheiterter Staat, in dem keinerlei Strukturen existieren. Niemand kümmert sich um die öffentliche Ordnung. Die Macht haben Milizen, Privatarmeen und kriminelle Vereinigungen. Und die Flüchtlinge sind die Leidtragenden.

Kontakt

Dr. Christian Böhme
Journalist

Telefon: +49(0)176.32 73 83 34

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