Der Tagesspiegel, 6. Juli 2017

"Wir haben besseren Zugang zu den Bedürftigen in Syrien"

Jakob Kern vom Welternährungsprogramm der UN über belagerte Orte, die Schlacht um Rakka und wachsende Armut

Herr Kern, der Sturm auf die syrische IS-Hochburg Rakka hat begonnen. Welche Folgen hat das für die Einwohner?
Fast 200.000 Menschen ist in den vergangenen Wochen die Flucht gelungen. Sie leben jetzt zumeist in Lagern oder Dörfern nördlich der Stadt und werden von uns mit dem Nötigsten versorgt. Aber dramatisch ist die Situation für jene, die noch in Rakka eingeschlossen sind. Das sind in der Mehrheit gebrechliche, kranke, behinderte und alte Menschen. Um die machen wir uns große Sorgen.

Was befürchten Sie?
Schätzungsweise 30.000 bis 50.000 Menschen müssen weiter in Rakka ausharren. Sie sind den heftigen Kämpfen schutzlos ausgesetzt. Und wir können ihnen nicht helfen, weil es keinerlei Zugang gibt. Es braucht deshalb dringend einen Waffenstillstand, um humanitären Organisationen Zugang zu den Hilfsbedürftigen zu gewähren.

Rakka wird seit drei Jahren von den Islamisten beherrscht und ist von der Außenwelt abgeschlossen. Konnten Sie dort überhaupt irgendwann einmal helfen?
Nein, die Stadt ist abgeriegelt. Hilfsorganisationen dürfen die Stadt nicht betreten. Es wäre auch viel zu gefährlich.

Was berichten die Menschen, die aus Rakka entkommen sind?
Viele sind traumatisiert und mussten bereits mehrfach vor  Kämpfen fliehen. Das ist übrigens typisch für diesen Krieg. Syrer werden durchschnittlich bis zu drei Mal im eigenen Land vertrieben. Auch viele Menschen, die Rakka verlassen konnten, waren schon vorher Flüchtlinge.

Wie sieht die Situation in anderen belagerten Städten Syrien aus?
Es gibt mittlerweile weniger abgeriegelte Orte. Einige Städte haben Abkommen mit den Belagerern geschlossen, andere haben aufgegeben. Aber in der Region Ost-Ghouta bei Damaskus sind nach wie vor 500. 000 Menschen  von der Außenwelt abgeschnitten. Es ist sehr schwierig, dorthin Lebensmittel und vor allem dringend benötigte Medikamente zu liefern.

Heißt das, die Hilfsorganisationen haben prinzipielle jetzt mehr und besseren Zugang zu den vielen Bedürftigen?
Ja, die Provinzen Rakka und Hasakeh im Norden des Landes sind dafür gute Beispiele. Weil wir dort seit Ende 2015 keinen Landzugang mehr hatten, mussten wir eine sehr teure Luftbrücke einrichten. Doch seit zwei Wochen erreichen wir die Menschen wieder über den Landweg. Eine halbe Million Frauen, Kinder und Männer können so von uns versorgt werden.

Im siebten Jahr des Syrienkriegs fallen immer mehr Menschen unter die Armutsgrenze. Wie macht sich die steigende Zahl der Bedürftigen bemerkbar?
Die humanitäre Lage ist schlimmer denn je. Die Reserven der Syrer sind aufgebraucht. Das Geld ist weg, die Möbel sind verkauft oder als Heizmaterial verbrannt worden. Sieben Millionen Menschen benötigen inzwischen dringend Lebensmittelhilfe. Um das bewerkstelligen zu können, braucht das Welternährungsprogramm der UN zwei Millionen Dollar – am Tag. Zum Glück hat Deutschland gerade 200 Millionen gespendet. Dadurch bekommen die Familien regelmäßig ihre Lebensmittelrationen. Und das hält sie davon ab, weiter im Land umherzuirren oder ins Ausland zu flüchten.

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Dr. Christian Böhme
Journalist

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