Der Tagesspiegel, 9. Oktober 2017

Der neue Nahe Osten

Russland statt Amerika: Warum jetzt einst unvorstellbare Bündnisse möglich sind

Es war einmal ein Amerika, das wurde im Nahen Osten geachtet und gefürchtet. Dieses Amerika hatte eine Menge Verbündete und sehr viel Einfluss. Denn auf die westliche Supermacht war in der Regel Verlass, sowohl als politischer als auch militärischer Partner. An diesem Amerika vorbei bewegte sich in dieser Region deshalb sehr wenig. Die Vereinigten Staaten waren ordnend und richtungsweisend. Im Guten wie im Schlechten.

Lang, lang ist’s her. Dieses Amerika gibt es nicht mehr. Wie es auch den alten Nahen Osten nicht mehr gibt. Der sortiert sich nämlich gerade von Grund auf neu. Nie für möglich gehaltene Konstellationen sind jetzt möglich. Weil Russland die von den USA hinterlassene Leerstelle mit seinen Interessen füllt. Und weil Möchte-Gern-Großmächte wie die Saudis, die Israelis, die Türken oder die Iraner die Regierenden in Washington nicht mehr für voll nehmen. Sie setzen auf eigene Stärke und Gefährten der überraschenden Art.

Jüngstes Beispiel: Der saudische Monarch macht Russlands Präsidenten den Hof. Dabei herrschte zwischen beiden Ländern jahrzehntelang Funkstille. Doch König Salman ließ es sich trotz seines hohen Alters und der angeschlagenen Gesundheit nicht nehmen, mit seinem Tross erstmals nach Moskau zu reisen, um guten Wind zu machen. Denn der Regent verlässt sich keinesfalls mehr allein auf die USA, wenn er seine Ziele verfolgt.

Zu wankelmütig wirkt Donald Trump. Und sein Vorgänger Barack Obama hatte es sogar gewagt, den schiitischen Erzfeinden in Teheran entgegenzukommen. Der jetzige US-Präsident will den „schlechten“ Atomdeal zwar rückgängig machen. Doch bleibt es dabei? Verlässlichkeit sieht anders aus.

Da kommt einer wie der Kremlchef gerade recht. Weil Putin inzwischen das besitzt, was Amerika in der arabischen Welt abhandengekommen ist: Achtung und Autorität. Wenn es etwa um Syrien geht, kommt keiner an dem russischen Staatschef vorbei. Und Saudi-Arabien will um jeden Preis verhindern, dass sich dort der Iran festsetzt. Da kann ein guter Draht zu Putin hilfreich sein.

Ein anderer, der sich enttäuscht von Amerika abgewendet hat, ist Recep Tayyip Erdogan. Der türkische Präsident wähnt sich auf Sultans Spuren und will sein Land wieder zu einer Führungsmacht im Mittleren Osten machen. Auch er hat sich vor einiger Zeit mit Putin ins Benehmen gesetzt. Die jüngste Intervention in Syrien ist nur mit Segen Moskaus vorstellbar. Mehr noch. Die sunnitische Türkei macht inzwischen sogar gemeinsame Sache mit dem schiitischen Iran. Zum einen, weil beide die nach Autonomie strebenden Kurden als Bedrohung empfinden. Zum anderen ist Erdogans neue Nähe zu den Mullahs in Teheran eine Kampfansage Richtung Saudi-Arabien: Seht her, ich bin die Nummer eins der sunnitischen Welt.

Selbst Israel als engster Verbündeter der USA in Nahost geht inzwischen eigene Wege. Und die führen Benjamin Netanjahu nicht nur nach Moskau, sondern auch nach Riad oder Kairo. Vor allem die informellen Kontakte zu den Saudis wären vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen. Offiziell ist es nach wie vor verpönt, wenn ein arabischer Staat mit dem der Juden nicht mit Feuer und Schwert droht. Aber das ist Rhetorik. In der Realität geht es um gemeinsame Interessen und gemeinsame Feinde wie den Iran. Das wiegt im Zweifelsfall schwerer als unnützer ideologischer Schlagabtausch.

Und das heutige Amerika? Bei all dem kaum mehr als ein Zaungast. Im neuen Nahen Osten haben die USA als Ordnungsmacht den Anschluss verloren. Womöglich für lange Zeit. Freuen sollte das keinen.

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Dr. Christian Böhme
Journalist

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