Der Tagesspiegel, 24. September 2019

"Viele Ägypter sind verzweifelt"

Stephan Roll von der Stiftung Wissenschaft und Politik über die Kundgebungen gegen Ägyptens Staatschef und die Armut im Land

Herr Roll, nach sechs Jahren gab es am Wochenende erstmals sichtbare Proteste gegen Ägyptens Machthaber Abdel Fattah al Sisi. Was treibt die Menschen gerade jetzt auf die Straße?

Jene, die demonstrieren, sind verzweifelt. Und zwar so sehr, dass sie in Kauf nehmen, verhaftet oder, schlimmer noch, erschossen zu werden. Die Menschen wissen, was ihnen droht. Dass sie dennoch ihre Wut auf die Straße tragen, hat ganz klar mit der desaströsen wirtschaftlichen und sozialen Lage des Landes zu tun.

Wie wirkt die sich aus?

Die Armut ist in den vergangenen Jahren drastisch gestiegen. Inzwischen dürfte ein Drittel der rund 100 Millionen Ägypter unter der nationalen Armutsgrenze leben und ein Drittel am Rande dieser Grenze. Das heißt: 60 Prozent der Bevölkerung leiden massiv unter Armut.

Haben die Proteste auch eine politische Stoßrichtung?

Die Menschen sind frustriert. Sie sehen, das al Sisi einfach nicht liefern kann. Es gibt zwar milliardenschwere Großprojekte des Staates, aber davon kommt beim Volk nichts an. Es zeigt sich immer deutlicher, dass Sisis Entwicklungsstrategie nicht trägt. Vielen Ägyptern mangelt es an Lohn und Brot. Das Geld wird falsch ausgegeben, die Korruption ist immens. Hinzu kommen die massiven Menschenrechtsverletzungen. Jeder, der Kritik äußert, wird festgenommen. Folter und Polizeiwillkür sind an der Tagesordnung.

Die Führung versucht, die Demonstrationen kleinzureden. Kann das gelingen?

Bemerkenswert ist, dass das Regime sich gezwungen fühlt, zu reagieren, also auf die Vorwürfe des Machtmissbrauchs und der Vetternwirtschaft einzugehen. Dennoch könnte es der Regierung gelingen, durch Massenverhaftungen die Situation vorerst zu beruhigen. Es ist jedoch nur eine Frage der Zeit, bis sich der Unmut von Neuem äußert.

Zu den Protesten hat der Bauunternehmer Mohamed Ali aus dem spanischen Exil aufgerufen. Wer ist dieser Mann?

Der Geschäftsmann ist eine schillernde Persönlichkeit. Er hat sich hochgearbeitet, vor allem mithilfe von Aufträgen des Militärs. Das heißt, er war Teil der Herrschaftselite. Dass sich so einer jetzt vom Regime abwendet und mit alten Weggefährten ins Gericht geht, ist schon etwas Besonderes. Und das macht Ali clever.

Inwiefern?

Er schießt vor allem gegen die Familie von al Sisi und wirft ihr Korruption im großen Stil vor. Das ist schon brisant. Denn der Präsident inszeniert sich gerne als Saubermann. Spannend daran ist: Ali gibt freimütig zu, selbst jahrelang Teil des Systems gewesen zu sein und davon profitiert zu haben. Das macht ihn so schwer angreifbar. Nach dem Motto: Seht her, ich selbst bin nicht unschuldig. Aber was heute unter Sisi passiert, ist viel schlimmer.

Für Freitag ruft der Geschäftsmann zu weiteren Kundgebungen auf, die Rede ist von einer „Revolution des Volkes“. Können sich die Proteste zu einer Gefahr für das Regime auswachsen?

Das muss nicht so kommen, doch es besteht zumindest die Möglichkeit. Denn es spricht einiges dafür, dass Ali seine Kampagne gut vorbereitet hat. Und dass sie von Teilen der Elite gesteuert wird. Dort sind Frust und Enttäuschung groß. Man fühlt sich vor den Kopf gestoßen, weil Sisi willkürlich herrscht und wichtige Posten, etwa im Militär und im Geheimdienst, mit seinen Leuten besetzt hat. Der Vorwurf des Regimes, hier seien die Muslimbrüder am Werk, halte ich für absurd. Die Islamisten sind völlig handlungsunfähig.

Sisis Herrschaft im September 2019 – wie lässt sich die beschreiben?

Ein extrem pyramidenförmig zugespitztes Machtsystem. Und ganz oben steht ein Präsident, der glaubt, er könne mittels Befehl und Gehorsam das Land regieren, gestützt auf absolute polizeistaatliche Repression. Doch das dürfte auf Dauer nicht funktionieren. Das hat es nicht einmal unter Langzeitdiktator Hosni Mubarak so gegeben. Der war darauf bedacht, einen gewissen Konsens innerhalb der Elite zu erhalten. Bei al Sisi gilt die Devise: Wer nicht spurt, wird ausgewechselt oder kommt sogar ins Gefängnis. Das schafft ein Klima der Angst. Und viele Feinde.

Kontakt

Dr. Christian Böhme
Journalist

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