Der Tagesspiegel, 26. Juni 2020

„Die Jordanier opfern viel“

Dominik Bartsch vom UN-Flüchtlingshilfswerk über die Lage der syrischen Flüchtlinge in Jordanien

Herr Bartsch, am Dienstag organisieren die Vereinten Nationen und die EU eine Konferenz, um auf die dramatische Lage in Syrien und Nachbarländern aufmerksam zu machen. Was erhoffen Sie sich von dem Treffen?

Als Repräsentant des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) in Jordanien hoffe ich auf zwei Ergebnisse. Zuerst natürlich, dass die internationale Gemeinschaft Geld zur Verfügung stellt, um die Flüchtlinge und auch Aufnahmeländer wie Jordanien unterstützen. Obwohl die Hälfte des Jahres schon rum ist, ist UNHCR Jordanien nur zu 27 Prozent finanziert. Und durch die Coronakrise brauchen immer mehr Flüchtlinge, von denen viele zuvor autark waren, plötzlich wieder die Hilfe von UNHCR.

Und zweitens?

Hoffe ich, dass die internationale Gemeinschaft weiterhin ihre Bereitschaft zum Ausdruck bringt, den Kurs gegenüber dem syrischen Volk und den Ländern beizubehalten, die Flüchtlinge aufnehmen. Neun Jahre dauert der kriegerische Konflikt, das ist eine lange Zeit. Er macht nicht mehr so Schlagzeilen wie früher. Aber das bedeutet sicher nicht, dass das Leid der Menschen zurückgegangen ist.

An Appellen, Krieg und Leid zu beenden, herrscht kein Mangel. Wo bleibt die Wende zum Besseren?

Was mir Hoffnung macht, ist jene Kraft, die wir in der Widerstandsfähigkeit finden, die Flüchtlinge zeigen. Gegen alle Widerstände haben die 750.000 Schutzsuchende, die UNHCR in Jordanien registriert hat, weitergemacht, ihre Kinder zur Schule geschickt, versucht, Arbeit zu finden, und daran geglaubt, dass die Zukunft besser sein kann. Wir sind es ihnen schuldig, alles uns mögliche zu tun, um ihnen zu helfen, ihre Hoffnung zu verwirklichen.

Haben Sie ein Beispiel parat?

Vergangene Woche war ich im Camp Asrak und habe mich mit ein paar Markthändlern getroffen. Obwohl allen klar war, dass die Zeiten durch Corona schwierig sind, geben sie nicht auf. Einer von ihnen, Ahmad, hatte kürzlich eine Eismaschine gekauft, um in den Sommermonaten, wenn die Temperaturen im Lager 40 Grad erreichen, neue Kunden anzulocken. Die Kreativität der Flüchtlinge in Jordanien inspiriert mich immer wieder.

Jordanien ächzt unter der Last der Flüchtlinge. Wie geht das Land mit dem Problem um?

Wenn wir uns die Statistiken ansehen, dann gibt es ohne Frage noch viel zu tun. Anfang 2020 lebten 79 Prozent der Flüchtlinge in Jordanien unterhalb der Armutsgrenze, also mit weniger als drei Dollar am Tag. Als Folge der Pandemie schätzen wir, dass diese Zahl gestiegen ist. Die Mehrheit der Flüchtlinge in Jordanien - 85 Prozent! - lebt außerhalb der Lager in normalen Städten und Ortschaften. Sie müssen also ausreichend Geld aufbringen, um die täglichen Ausgaben wie Miete, Lebensmittel, Wasser und Elektrizität zu bezahlen. Die Deckung dieser Grundbedürfnisse ist oft eine Herausforderung. Eine Vielzahl von UN-Organisationen, NGOs und die Zivilgesellschaft versuchen, ihnen beim Schultern der Last zu helfen.

Vor allem wirtschaftlich sind die syrischen Flüchtlinge für das Königreich eine enorme Belastung. Kann das Land sie überhaupt meistern?

Das ist sicherlich eine Herausforderung. Erst jüngst haben wir den Jordan Response Plan vorgestellt, in dem es heißt, dass die jordanische Regierung und Organisationen wie UNHCR jährlich zwei Milliarden Dollar benötigen, um Flüchtlinge im ganzen Königreich zu unterstützen. Vor der Syrienkrise wuchs das Bruttoinlandsprodukt Jordaniens um 15 Prozent. Mittlerweile ist es drastisch zurückgegangen – und die Coronavirus-Krise belastet die Finanzen des Landes extrem.

Was kann sich Jordanien überhaupt noch leisten?
Das Land hat ungeachtet der Widrigkeiten viele wichtige Schritte unternommen, um Flüchtlingen den Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Bildungs- und Gesundheitswesen zu erleichtern. Erst diese Woche ist beschlossen worden, dass alle Flüchtlinge, auch Nicht-Syrer, Zugang zur staatlichen Gesundheitsversorgung haben. Dies ist eine bedeutende Änderung. Denn das bedeutet zum Beispiel, dass die Kosten für eine Schwangerschaftsversorgung deutlich sinken werden. Das konnte aber nur ermöglicht werden, weil internationale Geldgeber Jordanien dafür finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt haben.

Jordanien hat viel Erfahrung mit Flüchtlingen - Millionen Palästinenser leben dort. Macht das den Umgang mit den Syrern einfacher oder eher schwieriger?

Das Land kann in der Tat auf eine lange Geschichte der Aufnahme von Flüchtlingen zurückblicken, beginnend mit den Palästinensern in den 60er Jahren. Ich bin jetzt seit sechs Monaten in Jordanien und kann aufrichtig sagen, dass die Haltung der Menschen gegenüber den Flüchtlingen eine der Gastfreundschaft und Großzügigkeit ist. Zu Beginn des Konflikts öffneten die Jordanier ihre Häuser, um syrische Flüchtlinge unterzubringen. Und jetzt, fast zehn Jahre später, gibt es sogar viele Beispiele für gemeinsame Geschäftsunternehmen. Dennoch gibt es viele Probleme.

Inwiefern?

Die Jordanier haben viel geopfert, um ihren Nachbarn entgegenzukommen. Mehr als 200 öffentliche Schulen betreiben hier ein Zweischichtsystem, um auch syrische Flüchtlingskinder unterzubringen. Oder nehmen sie den Wasserbedarf. Der ist etwa in den nördlichen Gouvernoraten, die am stärksten vom Flüchtlingszustrom betroffen sind, um 40 Prozent gestiegen. Dabei gehört Jordanien zu den wasserärmsten Staaten der Welt.

Jetzt kommt auch noch die Pandemie hinzu. Welche Folgen hat die Ausbreitung von Covid-19 für Jordanien und die dort lebenden Syrer?

Corona hat verheerende Auswirkungen auf die Flüchtlinge in ganz Jordanien. Obwohl es landesweit nur sehr geringe Fallzahlen und keine Fälle unter den in Camps lebenden Flüchtlingen gibt, werden die sozioökonomischen Folgen der Krise noch Jahre nachwirken. In einer kürzlich von UNHCR und Partnern gemachten Umfrage sagten nur 35 Prozent der Flüchtlinge, dass sie nach der Aufhebung der Covid-19-Beschränkungen einen Arbeitsplatz hätten, an den sie zurückkehren könnten. Nur zwei Prozent der Befragten erklärten, dass sie über Ersparnisse verfügen. Angesichts der instabilen wirtschaftlichen Lage haben sich viele Syrer verschuldet.

Was folgt daraus?

Wir brauchen dringend langfristigere Lösungen, um die Not der Flüchtlinge zu lindern und sie zu integrieren. Das gilt für Jordanien ebenso wie für andere Aufnahmeländer. Denn dass die Mehrheit der Syrer in absehbarer Zeit in ihre Heimat zurückkehren kann, ist derzeit unwahrscheinlich. Zum einen herrscht in dem Land nach wie vor Krieg, auch wenn er in unseren Nachrichten nicht mehr so präsent ist. Und es gibt natürlich auch weiter schwere Menschenrechtsverletzungen.

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Dr. Christian Böhme
Journalist

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