Der Tagesspiegel, 29. September 2020

„Die Not ist größer denn je“

Ralf Südhoff über humanitäre Hilfe in Syrien, Kompromisse mit dem Assad-Regime und Versäumnisse der Staatengemeinschaft.

Herr Südhoff, Leid, Not und ein Despot namens Assad, der die Regeln bestimmt – in Syrien scheint sich im Laufe des Konflikts wenig geändert zu haben. Was bedeutet das für die humanitäre Hilfe?

Auch wenn man sich das kaum hat vorstellen können: Es ist noch schwieriger geworden, Hilfe zu leisten. Die Not ist größer denn je. Mehr als elf Millionen Syrer sind auf Unterstützung angewiesen. Viele Menschen, die bis vor Kurzem noch halbwegs über die Runden gekommen sind, rutschen in Armut ab. Covid-19, Währungsverfall, explodierende Preise – das alles hat die ohnehin dramatische Lage der Menschen weiter verschärft. Und dass das Assad-Regime faktisch den Krieg gewonnen hat, macht es für die Helfer nicht einfacher.

Inwiefern?

Wer in Syrien helfen will, kann dies nur, wenn er mit der Regierung in irgendeiner Form kooperiert. Der Zugang zu Städten und Gemeinden wird von der Führung kontrolliert. Im Klartext: Eine unabhängige Hilfe, die sich ausschließlich am Ausmaß der Not der Menschen orientiert, kann nicht geleistet werden. Zugleich werden mehr als sechs Millionen Menschen in Not allerdings versorgt.

Das heißt, es braucht Kompromisse mit den Regierenden. Bleibt dabei nicht die vielbeschworene Neutralität der Helfer auf der Strecke?

Sie gerät in eine große Grauzone. Analysen belegen: Etwa die Hälfte der Hilfe erreicht Menschen in allergrößter Not, die andere Hälfte Menschen in Not, die aber nicht die Bedürftigsten sind. Was wäre die Alternative? Man kann die gesamte Hilfe vorerst stoppen. Das muss man dann aber zu Ende denken bei einer Regierung, die Krankenhäuser bombardiert und Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt hat und womöglich nicht nachgibt. Dann bleibt nur, alle Hilfen einzustellen; die Helfer werden auch Millionen Menschen in größter Not dann nicht mehr helfen können.

Gibt es Grenzen für die Kompromissbereitschaft gegenüber dem Regime?

Ein zentrales Kriterium kann in solchen Konflikten die Frage sein, ob die Hilfe überhaupt notleidende Menschen erreicht oder womöglich den Konflikt und damit die Not noch verschärft, indem sie zum Beispiel genutzt wird, um das Militär zu versorgen.

Sich mit dem Regime in bestimmten Fällen gemein machen – dieser Vorwurf wird immer wieder gegen die Vereinten Nationen erhoben. Zu Recht?

Die UN dürfen per Definition nicht gegen den Willen einer Regierung aktiv werden. Das bedeutet, es braucht diese Verhandlungen, bei denen die UN früher sicher mehr mit einer Stimme hätten sprechen sollen. Das trifft aber auch auf private Hilfsorganisationen

Bis heute, also seit fast zehn Jahren, wird in Syrien fast ausschließlich sehr teure Nothilfe geleistet. Ist das alternativlos?

Nein. Begründet wird dies oft mit dem auch weltweit zunehmenden Problem von agitatorischem Missbrauch und Politisierung einer Hilfe, die hierfür bei Entwicklungsprojekten noch anfälliger wird. Im zehnten Jahr einer Krise können aber zum Beispiel eine nachhaltige Nothilfe oder die Rehabilitierung von Basis-Infrastruktur eine Alternative sein, also Nothilfe ersetzen.

Das heißt?

Soll man zum Beispiel auf Dauer Menschen mit kostspieligen Wassertransporten versorgen oder nach zehn Jahren die Wasserleitungen reparieren? Soll man immer wieder Zelte errichten, um Kinder zu unterrichten oder die Schule wiederaufbauen? Erneut eine Grauzone. Denn die Regierung wird jeden Fortschritt politisch nutzen. Aber es ist auch nach zehn Jahren kein Wandel in Syrien in Sicht. Wir müssen uns von der Idee verabschieden, humanitäre Hilfe solle nachträglich reparieren, was die internationale Staatengemeinschaft in diesem wie auch anderen akuten Konflikten politisch jahrelang versäumt hat.


Kontakt

Dr. Christian Böhme
Journalist

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