Der Tagesspiegel, 9. März 2012

»Für Europa ist nur Assad der Bösewicht«

Gregorios III., Patriarch von Antiochia, über den Bürgerkrieg in Syrien, Manipulationen und religiöse Konflikte

Eure Seligkeit, seit Monaten vergeht kein Tag ohne dramatische Nachrichten aus Syrien. Staatschef Assad geht mit großer Härte gegen die Aufständischen vor. Wie beurteilen Sie die Situation im Land?
Gregorios: Die Lage ist inzwischen sehr schwierig und völlig unübersichtlich. Anfangs stand auf der einen Seite die Opposition, auf der anderen die Regierung. Und die Armee, da bin ich mir ganz sicher, hatte den Befehl, sich nur zu verteidigen, nicht anzugreifen. Aber vor einiger Zeit sind noch weitere Kräfte in diesem Konflikt aktiv geworden. Mit der Folge, dass jetzt zum Teil chaotische Zustände herrschen.

Welche „Kräfte“ sind das?
Gregorios: Wer konkret dahintersteckt, weiß ich nicht. Aber es sind wohl zumeist Kriminelle, die das Chaos für ihre Zwecke ausnutzen. Es gibt Überfälle, Entführungen und Plünderungen. Viele Christen haben deshalb Angst.

Sie fühlen sich bedroht?
Gregorios: Weniger als Christen, vielmehr als Bürger. Die Menschen wissen einfach nicht, wohin und wie es weitergehen soll. Sie fragen sich jeden Tag: Wie komme ich zur Arbeit, kann ich meine Kinder zur Schule schicken? Wo bekomme ich etwas zum Essen?

Das klingt, als sei das öffentliche Leben in Syrien zusammengebrochen.
Gregorios: Nein, das ist nicht der Fall. Hier in Europa glauben zwar alle, es handele sich um einen Konflikt, der das ganze Land erfasst hat. Doch dieser Eindruck trügt. Chaos gibt es nur in bestimmten Gegenden und zu bestimmten Zeiten. Mal brennt es hier, mal dort. Aber im Großen und Ganzen ist die Lage ruhig und stabil.

Von Homs kann man das wohl kaum behaupten. Dort sterben offenkundig jeden Tag viele Menschen durch die Angriffe der Assad-Truppen.
Gregorios: Ja, in Homs und Umgebung gibt es tatsächlich große Probleme. Haben Sie sich eigentlich schon mal angeschaut, wo es im Land überall brennt?

Nicht genau.
Gregorios: Sehen Sie. Interessanterweise befinden sich die Unruheherde oft in grenznahen Gebieten, etwa zur Türkei oder dem Libanon.

Sie meinen, der Konflikt wird von außen geschürt?
Gregorios: Es ist auf jeden Fall sehr viel Manipulation im Spiel.

Das klingt danach, als wollten Sie Staatschef Assad entlasten?
Gregorios: Mich stört Europas einseitige Wahrnehmung. Stets wird ausschließlich Assad als blutrünstiger Bösewicht dargestellt. Man glaubt offenbar, seine Gegner seien mehr oder weniger brave Engel.

Mit Verlaub, der syrische Alleinherrscher lässt auf sein Volk schießen. Selbst die Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen fordern von Assad, die Kämpfe einzustellen.
Gregorios: Sie sollten den Berichten und Bildern nicht ohne Weiteres trauen. Nochmals: Manipulationen sind an der Tagesordnung. Mir haben zum Beispiel Offiziere glaubhaft versichert, es gäbe keinen Schießbefehl von Assad. Im Gegenteil. Dennoch steht für die internationale Presse fest, dass der Staatschef der alleinige Übeltäter ist. Die Opposition dagegen scheint über jeden schlimmen Verdacht erhaben.

Von wem geht Ihrer Meinung nach die Gewalt aus?
Gregorios: Überwiegend von den Demonstranten.

Assad reagiert also nur?
Gregorios: In den meisten Fällen. Ich glaube, dass die Armee zumeist so scharf reagiert, weil sie zuvor provoziert wurde. Dahinter steckt womöglich sogar eine Strategie. Es soll immer mehr Blut fließen, um die Situation weiter anzuheizen.

Mal angenommen, Assads Herrschaft ist nicht das Kernproblem. Wie kann der Konflikt denn dann entschärft werden?
Gregorios: Zunächst wäre es ganz wichtig, dass keine Waffen mehr an die beiden Kontrahenten geliefert werden. Und es hat einfach keinen Sinn, die Auseinandersetzungen zu schüren, indem man Assad immer und immer wieder für alles Schlimme allein verantwortlich macht. Und das tut Europa.

Europa sollte sich mehr zurückhalten?
Gregorios: Europa sollte nach sinnvollen Lösungsmöglichkeiten suchen. Deshalb bin ich derzeit auf Reisen. Nein, es ist eine Mission zum Wohle Syriens und der Region. Ich möchte Ratschläge sammeln, wie die Gewalt eingedämmt werden kann. Gewalt, die dazu geführt hat, dass die Fronten verhärtet sind. Die dunklen Geister müssen beruhigt, die gegnerischen Parteien zum Dialog bewegt werden.

Warum kommt gerade Europa für eine solche Vermittlerrolle infrage?
Gregorios: Das ist ganz einfach. Staaten wie Syrien, Libanon, Jordanien, Palästina und Israel sind mit Europa etwa durch Wertschätzung für Freiheit und Frieden miteinander verbunden. Wir sind Partner mit gemeinsamer Vergangenheit und Zukunft. Europa braucht generell mehr Fantasie, eine Vision, neue Ideen. Dazu gehört auch, nicht einfach nur zu rufen: „Assad muss weg!“. Ich kenne den Mann ein wenig und halte es keinesfalls für ausgeschlossen, dass er zu Reformen fähig ist.

Sanktionen, um das Regime zum Einlenken zu zwingen, halten Sie für falsch?
Gregorios: Es gibt schon genug Sanktionen. Sie führen dazu, dass sich die Fronten weiter verhärten.

Lassen wir mal die Schuldfrage und deren Lösung außen vor. Tatsache bleibt, dass Syrien offenkundig mitten in einem verheerenden Bürgerkrieg steckt. Wie konnte es dazu kommen?
Gregorios: Da gibt es einige Faktoren. Zum Beispiel regiert die Baath-Partei das Land seit Jahrzehnten allein. Das ist an sich schon gefährlich. Was die Sache noch heikler macht: Mit der Baath-Partei steht die Minderheit der schiitischen Aleviten an der Spitze des Staates. Die große Mehrheit der Sunniten bleibt beim Regieren außen vor. Hinzu kommt, dass Schiiten und Sunniten erbitterte Gegner sind.

Schon seit Jahrhunderten
Gregorios: Ja. Dann kam allerdings der „Arabische Frühling“ in Tunesien, Ägypten und anderswo verschärfend dazu. Diese Aufstände wirkten wie ein Katalysator für die in Syrien ohnehin schon lange existierenden Feindschaften. Die Sunniten glaubten, diese einmalige historische Chance für sich nutzen zu müssen.

Dann hat der Konflikt in Syrien nicht zuletzt eine religiöse Dimension?
Gregorios: Ja. Es herrscht Hass auf beiden Seiten. Deshalb haben wir Christen die Aufgabe, die Menschen wieder zueinander zu bringen.

Sie wollen vermitteln?
Gregorios: Wir sind vorsichtig in unseren Äußerungen. Wie die anderen Menschen auch wollen die Christen vor allem, dass sich die Lage beruhigt. Wir sind nach allen Seiten offen.

Läuft man mit einer derartigen Haltung nicht Gefahr, zum Assad-Parteigänger erklärt zu werden?
Gregorios: Ich muss für das Wohl meiner Gemeinden sorgen. Deshalb setzen wir Christen auf den Dialog, um die Kämpfe zu beenden.

Und wenn das nicht gelingt?
Gregorios: Dann wird es für alle Länder in der Region und außerhalb sehr gefährlich.

Was kann passieren?
Gregorios: Radikalislamische Kräfte könnten die Oberhand gewinnen. Das hätte zwar kaum Folgen für uns Christen in der arabischen Welt. Wir kommen seit Jahrhunderten gut mit dem Islam und den Muslimen aus. Aber Europa wird den Wandel zu spüren bekommen. Hier sind die Probleme mit dem Islam doch viel größer. Denken Sie nur an die Sarrazin-Debatte oder jüngst die Aufregung um eine neue Integrations-Studie.

Fürchten Sie nicht, dass aus einigen arabischen Ländern islamische Gottesstaaten werden könnten?
Gregorios: Der Islam hat dort einen anderen Charakter, die Muslime denken anders. Und für die arabischen Christen gilt das ebenfalls. „Gottesstaat“? Das klingt mir doch allzu sehr nach Propaganda.

Das Gespräch führte Christian Böhme.

Zur Person: Gregorios III. ist seit 2000 Patriarch von Antiochia und damit höchster Vertreter von schätzungsweise 1,7 Millionen griechisch-melkitischen Katholiken. Sein Amtssitz ist Damaskus. 1933 geboren, gilt er als höchster katholischer Würdenträger im Nahen und Mittleren Osten. Gregorios III. wurde in Rom ausgebildet, 1959 zum Priester und 1981 zum Bischof geweiht. Die Melkiten (aramäisch für „kaiserlich“), die sich als direkte spirituelle Erben der ersten Christengemeinden von Jerusalem und Galiläa verstehen, feiern ihre Gottesdienste nach byzantinischem Ritus. Dennoch erkennen sie den Papst in Rom als Oberhaupt der Weltkirche an. Die Gläubigen leben überwiegend in Syrien, Libanon, Israel, Ägypten, Jordanien, den USA und Europa.

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Dr. Christian Böhme
Journalist

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