The European, 5. Juni 2012

Der Einmischer

Joachim Gauck setzt als kantiger Freigeist von Bellevue eigene Akzente und löst sich so geschickt von seinem Vorgänger

Die einen halten ihn für einen Glücksfall. Gauck, der Bürger. Gauck, der Freigeist. Gauck, der Meinungsfreudige. Gauck, der Klarsprecher. Gauck, der Zuhörer. Gauck, der Mensch. Die anderen mäkeln gerne am neuen Bundespräsidenten herum. Gauck, der Vorlaute. Gauck, der Besserwisser. Gauck, der Anmaßende. Gauck, der Unberechenbare. Gauck, der Eigensinnige.

Das sind eine ganze Menge Charakterisierungen für einen Einzelnen. Es handelt sich bei Joachim Gauck offenbar um eine multiple Persönlichkeit. Nur auf eines werden sich seine Fürsprecher und Kritiker verständigen können: Der Mann bleibt sich treu, hat Prinzipien. Er will nicht pastoral zu allem Ja und Amen sagen, möchte sein Amt mit Inhalt füllen, die eine oder andere Debatte anregen und damit bei aller Volksnähe dem Volk auch etwas zumuten. Von der politischen Klasse ganz zu schweigen. Seine Wortmacht wird sie noch einige Male zu spüren bekommen. Die Freiheit nimmt er sich.

Nicht eben wenig für jemanden, der sich noch in der schwierigen Anfangsphase seines (wenn alles nach Plan läuft) fünfjährigen Wirkens befindet. Für einen, der nach Christian Wulff dem Amt des Bundespräsidenten neue Reputation verschaffen soll. Für den „Nicht-Supermann“, von dem unwirklich viel erwartet wird.

Dennoch ist es Gauck gelungen, durch Absetzbewegungen erste Akzente zu setzen. Dass er dabei hin und wieder übers Ziel hinausgeschossen ist – geschenkt. Auch ein Gauck darf die Freiheit in Anspruch nehmen, Fehler zu machen. Wenn es denn überhaupt ein Fehler ist, auf die Kraft des offenen, des klaren, des selbstbewusst eigenen Worts zu setzen.

Das Stromlinienförmige, das Glatte, das Weichgespülte – wer will das schon? Es darf ruhig mal unbequem, ja kantig sein. Und für alle Aufgeregten: Davon ist der Bundespräsident noch ein gutes Stück entfernt. Es ist auch kaum zu erwarten, dass er den herrschenden gesellschaftspolitischen Konsens bewusst verlässt. Aber die Freiheit des unabhängigen Denkens wird sich Gauck mit all seiner Souveränität nicht nehmen lassen – weder von einer Kanzlerin, die ihn nicht haben wollte, noch

vom vermeintlichen Mainstream, der ihm huldigt.
Dass der erste Bürger im Staate ohne Scheu redet, zeigt sich zum Beispiel in der leidigen Islamdebatte. Vorgänger Christian Wulff war der Meinung, diese Religion gehöre zu Deutschland. Gauck legt nun Wert auf die viel treffendere Formulierung: „Die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland.“ Hat das amtierende Staatsoberhaupt damit das Gewesene bloßgestellt, den Islam gar brüskiert? Ist das „Geschichtsfälschung“? Das wird nur behaupten, wer dem gelernten Pfarrer böswillig Vorbehalte gegenüber dieser Religion unterstellt. Gauck hat vielmehr jenseits philosophischer und politischer Spitzfindigkeiten mit einem Satz die Realität beschrieben. Auch so etwas dient der Integration.

Ähnlich absurde, teilweise sogar hysterische Züge trägt die Diskussion um Israels Sicherheit. Gehört sie zur deutschen Staatsräson? Aber klar! Auch Joachim Gauck wird die Kernaussage – die Bundesrepublik steht als Freund und Verbündeter fest an der Seite des jüdischen Staates – nicht in Zweifel ziehen. Er stößt sich allerdings an der Wortwahl. Denn konsequent zu Ende gedacht, könnte Staatsräson bedeuten, Jerusalem im Kriegsfall militärisch beizustehen. In welcher Form auch immer.

Dieser sehr weitgehende Schritt ließe sich indes schwerlich mit der hierzulande weitverbreiteten Israel-Feindlichkeit in Einklang bringen. Das weiß Gauck – und warnt vor den „enormen Schwierigkeiten“, die das Reden von der Staatsräson in sich birgt. Wer daraus konstruiert, der Bundespräsident säge an einem Grundpfeiler deutscher Außenpolitik, tut dies wider besseres Wissen: Gauck ist ein Freund Israels, der sich der Tragweite dieser Freundschaft sehr wohl bewusst ist. Die Sorge um Israels Sicherheit sei „für die deutsche Politik bestimmend“ und werde es immer bleiben – ein Satz, der deutsche Staatsräson quasi atmet, ohne sie beim Namen zu nennen.

Islam, Israel, die gezielte Absage einer Konferenz in der Ukraine oder auch Norbert Röttgens menschelnde Verabschiedung als Umweltminister: Joachim Gauck versteht sein Amt zweifellos als Herausforderung. Er will mehr sein als ein willfähriger Abnicker oder respektabler Frühstücksdirektor. Nämlich einer, der quer denkt und redet. Einer, der auch mal aneckt und widerspricht, wenn es ihm notwendig erscheint. Dabei mag der Selbstbewusste das eine oder andere Mal einen Schritt zu weit gehen.

Doch das ändert nichts daran, dass es dieser Republik guttut, wenn sich eine allseits respektierte Autorität jenseits der kurzatmigen Tagespolitik wortreich und -mächtig engagiert. Und mehr noch. Der Bundespräsident sollte viel häufiger Akzente setzen, deutlich machen, wofür er steht. Dazu gehört, eigene Themen zu setzen – gerade, wenn sie unbequem sind. Gauck, der Einmischer. Das wär’s.

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Dr. Christian Böhme
Journalist

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