Der Tagesspiegel, 17. Juni 2016

Land in Not

Der Libanon gewährt fast 1,5 Millionen Flüchtlingen Schutz. Doch das Land ächzt unter der Last. Und die Lage der Syrer wird immer dramatischer

Wenn Amena al Mahmood an ihre Heimat denkt, werden ihre kastanienbraunen Augen feucht. Und die ansonsten recht redselige Frau mit dem schwarz-roten Gewand verstummt für einige Augenblicke. Dabei senkt die 49-Jährige ihren schmalen Kopf und stützt ihn mit einer Hand ab. In sich zusammengesunken wirkt Amena dann, die Gedanken sehr weit entfernt. Irgendwo Richtung Vergangenheit. Als das Leben noch lebenswert war. Als die Familie noch ihr Auskommen hatte. Als es noch ein echtes Dach über dem Kopf gab. Als sie noch keine Hilfe von anderen in Anspruch nehmen mussten, um zu überleben.

Das ist lange her, vier Jahre nun schon. Es kommt Amena wie eine Ewigkeit vor. Dabei ist das alte Zuhause eigentlich ganz nahe. Keine 30 Kilometer Luftlinie sind es von ihrem kahlen Zelt in der libanesischen Bekaa-Ebene bis zur syrischen Grenze. Gleich hinter dem markanten Gebirgszug liegt das Bürgerkriegsland, das die Mutter mit ihrem Mann und den fünf Kindern verlassen mussten. Bis die Gewalt über Syrien hereinbrach, wohnten sie in einem Vorort von Homs. Doch die Bomben trieben sie über die Grenze. Der Libanon versprach zumindest Sicherheit, ein wenig Normalität ohne ständigen Bombenhagel. Es sollte ja nur für kurze Zeit sein. Aber die Hoffnungen erfüllten sich nicht. Stattdessen ist der Alltag in dem kleinen Ort Ghasseh geprägt von Armut, Frust und Schikanen.

Der Libanon hat schätzungsweise 1,3 Millionen Flüchtlingen aus dem Nachbarland Schutz gewährt. Vielleicht sind es auch viel mehr - bei einer Bevölkerung von 4,5 Millionen. Kein Land hat im Verhältnis zu seiner Größe mehr Menschen aufgenommen. Doch der Zedernstaat ist mit dem Andrang völlig überfordert – politisch, sozial und wirtschaftlich. Denn die Syrer können bis heute nicht in ihre Heimat zurückkehren. Weil der Konflikt jenseits der Berge einfach kein Ende nimmt. Dabei fürchtet der Libanon kaum etwas mehr, als dass die Vertriebenen auf Dauer bleiben. Wie die Palästinenser.

Deshalb hatten die Behörden von Anfang an untersagt, feste Camps zu errichten. So hausen Hunderttausende in erbärmlichen Notunterkünften aus Stangen, Plastikplanen und Zelten. Oft müssen Garagen, Keller, Ställe und unfertige Häuser als behelfsmäßige Bleibe herhalten. Denn die meisten Flüchtlinge waren schon bei ihrer Ankunft arm. Jetzt sind viele noch ärmer. Die  letzen Ersparnisse (wenn es überhaupt welche gab) – aufgebraucht. „Die Situation ist dramatisch“, sagt Mireille Girard, Repräsentantin des UN-Flüchtlingshilfswerks im Libanon. Lebten anfangs 50 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze, seien es heute 70 Prozent. Und es gibt laut Girard keine Aussicht, dass sich die Lage bessert. „Die Leute haben weder Geld noch einen Job.“ Aber wie sollen die Syrer dann ihren Alltag halbwegs meistern, zum Beispiel Essen und Medikamente bezahlen?

Diese Frage stellt sich auch Amena al Mahmoud. Tag für Tag. Die Familie lebt von der Hand in den Mund. Ohne die Unterstützung durch das Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen und dem Welternährungsprogramm käme die Familie keinesfalls über die Runden. Allein für die Miete des staubigen Geröllfeldes, auf dem das Zelt steht, müssen 200 Dollar pro Monat aufgebracht werden. Die gleiche Summe ist nötig für die jährliche Aufenthaltsgenehmigung – pro Person. Ein unerschwinglicher Betrag für eine Familie ohne nennenswertes Einkommen. Denn Amenas Ehemann Mohammad leidet unter Epilepsie, er liegt zumeist am Boden, murmelt ab und zu ein paar Sätze vor sich hin. Ein Pflegefall. Also muss Sohn Hussein etwas dazu verdienen.

Das ist jedoch riskant. Wenn der 28-Jährige ohne Papiere aufgegriffen wird, droht ihm Gefängnis. Abgesehen davon, dass es für einen vollen Arbeitstag zum Beispiel auf einem der fruchtbaren Felder im Bekaa-Tal lediglich ein paar Euro gibt. Außerdem ist die Konkurrenz groß. In der langgezogenen Ebene östlich der Hauptstadt Beirut leben 350.000 syrische Flüchtlinge in fast 2000 informellen Zeltcamps. Kaum einer kann trotz der Dumpinglöhne auf einen Job verzichten.

Was wiederum jene Libanesen erzürnt, die selbst dringend Arbeit brauchen. Die Verteilungskämpfe haben längst begonnen. Inzwischen müssen Syrer bei der Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung sogar schriftlich versichern, dass sie keinen Job annehmen werden. „Die Libanesen haben Angst, die Flüchtlinge könnten für immer bleiben, wenn sie erst einmal legal arbeiten dürfen“, sagt Mireille Girard von den UN. Aber das stimme nicht. „Die Syrer sind keine Arbeitsmigranten, sondern Flüchtlinge, die möglichst rasch wieder in ihre Heimat zurückkehren wollen.“

Allerdings ist unbestritten: Auch vielen Libanesen fehlt das Nötigste zum Überleben. Beim Welternährungsprogramm (WFP) geht man von derzeit 300.000 Menschen aus, die unter der Armutsgrenze leben. Tendenz steigend. „Wir haben nicht genug zum Leben“ – diesen Satz höre er immer wieder, sagt WFP-Landesdirektor Dominik Heinrich. Um zusätzliche Spannungen zwischen den Einheimischen und den Syrern zu vermeiden, sollen in einem gemeinsamen Projekt des Sozialministeriums, der Weltbank und WFP fast 30.000 bedürftige Libanesen nun finanziell unterstützt werden. Auch mit deutschen Mitteln. „Das ist ein politisches Signal“, sagt Heinrich: „Die Solidarität beschränkt sich nicht allein auf die Flüchtlinge, sondern schließt eben auch die Libanesen ein.“

Ob das ausreicht, dem Zedernstaat zu etwas mehr Stabilität zu verhelfen, ist zumindest fraglich. Das Land hat bereits seit Jahren keine funktionierende, von den verschiedenen politischen und religiösen Fraktionen legitimierte Regierung. In mittlerweile 40 Sitzungen konnte sich das Parlament nicht auf einen Staatschef verständigen. Selbst die Christen, denen das Amt zusteht, sind zerstritten. Aber ohne Präsident kann das Parlament keine wichtigen Entscheidungen treffen. Von dem Chaos profitiert vor allem die Hisbollah. Die Schiitenmiliz, die im Syrienkrieg aufseiten von Machthaber Baschar al Assad kämpft, gewinnt im Libanon immer mehr an Einfluss. Beobachter vergleichen die „Partei Gottes“ mit einem Kraken, der seine Fangarme inzwischen überall hat.

Amena und ihre Familie dürften die politischen Schwierigkeiten allerdings herzlich wenig interessieren. Für sie geht es darum, die alltäglichen Herausforderungen zu meistern. Der kranke Ehemann braucht dringend Medikamente, die fünf Kinder etwas zum Essen. „Ohne die Hilfe von den Vereinten Nationen müssten wir betteln gehen“, sagt Amena. Dennoch ist Europa keine Option. Zu fremd, zu weit entfernt von vertrauter Umgebung. „Wir würden viel lieber nach Syrien zurückgehen. Aber dort herrscht Krieg.“ Und selbst wenn der endete, wohin sollten sie gehen? Ihr Haus ist völlig zerstört. Wie ihr altes Leben.

 

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Dr. Christian Böhme
Journalist

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