Jungle World, 20. Dezember 2013

Warten und teilen

Böhmische Dörfer (33): Warum Lesezirkel der Gesellschaft einen großen Dienst erweisen

Es wird Zeit für ein Geständnis. Dem Selbstverständnis nach bin ich ein der Seriosität verpflichteter Journalist. Aber ich habe einen Hang zu Buntem und Boulevardeskem. Stars und Sternchen, Auf- und Absteiger, Fehltritte und Fiesheiten, Glamour und Glanz - all das übt auf mich eine gewisse Faszination aus. Doch wo erfährt man etwas über Klatsch und Tratsch, ohne sich eine Blöße zu geben? Richtig, beim Arzt oder Friseur.

Denn dort liegen sie alle massenhaft aus: von Gala und Bunte bis Freizeit Revue und Frau im Spiegel. Mit diesen Begleitern vergeht die Wartezeit wie im Flug. Man braucht nur zugreifen, stöbern, sich treiben lassen. Kostenlos, wohl gemerkt. Den diversen Lesezirkeln im Land sei dank! Sie lassen uns in den wohltuenden Genuss des Seichten kommen.

Ja, das Angebot der Lesezirkel ist eine runde Sache, die allerdings viel zu wenig gewürdigt wird. Dabei hat die Idee, wöchentlich aktuelle Zeitschriften und Magazine zu vermieten, etwas wunderbar Egalitäres. Wir können mit anderen Patienten oder Kunden unser Wissen teilen. Und bestenfalls fühlt man sich noch gut unterhalten.

Kein Wunder, dass Lesezirkel Konjunktur haben. Bereits Anfang des 17. Jahrhunderts soll laut Wikipedia ein Postmeister namens Pankraz Müller in Kitzingen den ersten Lesezirkel gegründet haben. Er bot sogennante Journale an, handschriftliche Nachrichten aus verschiedenen Zeitungen. Eine solche gemeinschaftliche Lesemappe machte es für den Einzelnen erschwinglich, sich zu informieren. Heutzutage erreichen rund 160 Lesezirkelanbieter bundesweit mehr als zehn Millionen Menschen pro Woche.

Übrigens wird der Service von privaten Haushalten ebenfalls genutzt. Dort allerdings bleibt es leider im Geheimen, was für Titel konsumiert werden. Arztpraxen und Friseursalons hingegen machen das Leseverhalten der Nutzer transparent. Ein Exemplar mit Falten und Fingerabdrücken macht zum Beispiel augenfällig, dass es sich großer Beliebtheit erfreut. Mehr noch. Wir lernen mithilfe der dargebotenen Lektüre etwas über die Vorlieben und Eigenheiten der jeweiligen Mediziner und Haarkünstler.

Gibt es etwa nur den Spiegel, Focus, Cicero oder den Stern, dürften wir es mit einem intellektuellen Praxisinhaber zu tun haben. Liegen vier verschiedene Golf-Zeitschriften, das Manager-Magazin und Capital im Wartezimmer aus, kommt schnell der Verdacht auf, dass es dem Herrn Orthopäden finanziell recht gut gehen muss. Chip, Connect und Computer-Bild wiederum lassen vermuten, beim Abonnenten des Lesezirkels handelt es sich wohl um ein realitätsfernen Anhänger der digitalen Welt.

Mir sind daher diejenigen am Liebsten, die In Touch, Super Illu oder Das goldene Blatt im Angebot haben. Da weiß man wenigstens: Mein Arzt und mein Friseur stehen mit beiden Beinen im prallen Leben. Irgendwie beruhigend.

Kontakt

Dr. Christian Böhme
Journalist

Telefon: +49(0)176.32 73 83 34

kontakt@christianboehme.info